Das München-Komplott
der erfolgreichsten Operationen des Verfassungsschutzes an. Es war offensichtlich, dass es im Osten keine blühenden Industrielandschaften geben würde, wie es die Politik den Leuten versprochen hatte. Es würde Enttäuschungen geben. Es würde Unruhe geben. Und die gab es ja auch. Es gab in Leipzig die neuen Montagsdemonstrationen. Die Kirchen regten sich wieder auf. Es braute sich was zusammen, und die Geheimdienste wussten nicht, was. Die Leute dort drüben waren naiv, aber auch gefährlich. Sie hatten schon einmal eine Regierung gestürzt.«
»Und?«
»Nun ja, es wurde befürchtet, dass die Jugend aus dem Osten politisch nach links tendiert. Dass uns im Osten so etwasbevorsteht wie 1968 in Westdeutschland, nur schlimmer, weil eine solche Bewegung größer sein würde und alle möglichen Schichten einbeziehen würde. Außerdem gab es die Exkommunisten, die der enttäuschten Jugend einen organisatorischen Rahmen bieten konnten.«
»Ich verstehe nicht …«
»Es ist ziemlich einfach, Frau Staatssekretärin. Ziel der damaligen Operation war es, die Jugend vor einer möglichen linksradikalen Infektion zu bewahren. Das ist gelungen. Die Aktion war erfolgreich. Sehr erfolgreich.«
»Sie wollen mir doch damit nicht sagen, dass …«
»Doch, genau das will ich. Das Gegengift wurde verabreicht. Niemand mag die braune Suppe. Natürlich nicht. Ich bitte Sie! Aber damals wurde sie als Medizin verstanden. Es kommt auf die Dosierung an, wie bei jeder Medizin. Es gab Restposten nationalistischen Gedankengutes in der DDR. Nicht einmal allzu knapp. Es gab die westdeutschen Nazis, die im Osten warben. All das wurde nun professionell unterstützt, finanziert, ausgerichtet, geplant. Ich war bei dieser Operation nicht dabei. Ich bin Polizist. Ich war immer Polizist. Wir mögen Geheimdienste nicht sehr. Wir arbeiten mit ihnen zusammen, natürlich … Aber glauben Sie, dass der Aufbau einer straff geführten Kaderpartei mit den rechten Wirrköpfen aus Ost und West möglich gewesen wäre? Haben Sie eine Ahnung, was das alles gekostet hat?«
»Und nun?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht ist die Operation aus dem Ruder gelaufen. Vielleicht haben unsere Kölner Freunde aber auch Gefallen daran gefunden, eine eigene Partei zu haben. Ich weiß es wirklich nicht.«
Charlotte starrte den Präsidenten an. Der ordnete erneut die Kugelschreiber auf seinem Schreibtisch.
»Ich wundere mich ohnehin, dass die Politik gegenüber den braunen Umtrieben in eine Schockstarre gefallen ist.«
Er beugte sich vor: »Wir registrieren mittlerweile alle26 Minuten eine rechtsradikale Straftat. Täglich werden drei gewalttätige Angriffe von Rechtsradikalen durchgeführt. Im letzten Jahr gab es fünf Morde durch Rechtsradikale – Tendenz stark zunehmend. Aber im politischen Bereich geschieht nichts, Frau Staatssekretärin, außer Achselzucken.«
»Warum klären Sie die Hintergründe nicht auf?«
Dr. Schneider lachte lustlos auf.
»Wenn wir in diesem Zusammenhang beginnen würden, Ermittlungen gegen den Verfassungsschutz zu führen – die wüssten das noch eher als wir.«
Charlotte stand auf.
»Sie wollen mir also nicht helfen. Ich brauche Material. Ich brauche etwas, um zum Minister gehen zu können oder ins Parlament oder an die Öffentlichkeit«, sagte sie.
»Vielleicht gibt es eine Möglichkeit«, erwiderte Dr. Schneider nachdenklich.
Sie setzte sich wieder.
»Wir könnten schon etwas tun, aber das geht nicht offiziell, verstehen Sie.«
Charlotte nickte.
»Wir hatten hier mal einen tüchtigen Beamten. Einen der besten. Er arbeitet jetzt als freier Ermittler. Ich werde ihn auf das Thema ansetzen.«
»Einen einzelnen Mann?«
»Einen guten Mann.«
»Wie heißt er?«
»Sie werden ihn nicht kennen: Georg Dengler.«
Waage
Dengler las bis zum Nachmittag.
Schlussvermerk der Sonderkommission Theresienwiese: »Nach dem jetzt vorliegenden abschließenden Ermittlungsergebnis ist festzustellen, dass Gundolf Köhler als Alleintäter gehandelt hat.«
Es gab noch einen zweiten Abschlussbericht der Generalbundesanwaltschaft, die den Fall später an sich gezogen hatte: »Für die Tatbeteiligung Dritter sprechen nur einige unterschiedliche Beweiserkenntnisse, die einen abschließenden Nachweis der Tatbeteiligung jedoch nicht zulassen.«
Ein Einzeltäter legt eine Bombe und richtet ein verheerendes Massaker an. Der Fall ist geklärt. Warum soll er, der Privatermittler Georg Dengler, jetzt noch einmal diesen Schlamm aufwühlen?
Das Telefon
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