Das München-Komplott
eingeleitet werden. Die NPD sei eindeutig gewalttätig, terroristisch, intolerant gegen jede Art von Andersdenkenden, also gegen die gesamte Gesellschaft. Außerdem sei es unerträglich, dass sich diese Partei zu 40 Prozent aus Steuergeldern finanziere.
»Wir bezahlen diese Gesellen noch dafür, dass sie uns krankenhausreif schlagen«, rief sie in einer Leidenschaft, die ihren üblichen Reden manchmal fehlte.
Es gab Beifall für sie, viel Beifall, und der wog schwer, da das junge Tübinger Publikum es nicht gewohnt war, konservativen Politikerinnen zu applaudieren.
Mehr als einmal sah sie den erstaunten Blick von Jan. Einmal, so hatte sie den Eindruck, war dieser Blick sogar bewundernd, aber vermutlich bildete sie sich das alles nur ein. Was sie sich nicht einbildete, war, dass sie versuchte, bei allem, was sie sagte, ihm zu gefallen. Wenn sie sich bei diesem Gedanken erwischte, wurde sie ärgerlich auf sich selbst. Aber es stimmte ja nicht, sie vertrat ihre Meinung, keine offizielle Linie, sie dachte nicht an die Kabinettsdisziplin, handelte unbekümmert und frei wie selten, engagiert und mutig. Aber sie gestand sich auch ein, dass sie Jan gefallen wollte. Und das beunruhigte sie.
Jan leitete die Diskussion. Er hatte nichts von einem routinierten Moderator an sich. Er wirkte auf Charlotte so direkt, ehrlich, unmittelbar, jung und frisch, wie sie es vielleicht auch einmal gewesen war und wie sie wünschte, immer noch zu sein.
Nach der Diskussion ging man noch in den Wurstkessel ,setzte sich an den reservierten, großen Tisch direkt am Eingang. Charlotte wählte einen Platz am Fenster.
Möglichst weit entfernt von Jan.
Sie sah nicht hin und hatte trotzdem das Gefühl, genau zu wissen, was er tat. Er war umlagert von dem Vertreter der Links- und dem der Piratenpartei. Beide sprachen heftig auf ihn ein.
Charlotte mochte sie nicht.
Ich muss eine Reißleine ziehen, dachte sie. Er ist um die zwanzig, ich bin über vierzig. Also könnte ich seine Mutter sein. Wenn ich fünfzehn Jahre jünger wäre, dann vielleicht.
Sie bestellte einen Wurstsalat und ein Glas Merlot.
Außerdem war sie verheiratet. Zu Hause wartete Harald auf sie.
Obwohl … Manchmal dachte sie, dass ihr Mann schon lange eigene Wege ging. Auch sexuell. Vielleicht. An ihr war er jedenfalls nicht mehr interessiert, aber das störte sie nicht.
Das bisschen Jucken, hatte die Großmutter gesagt, und sie hatte letztlich recht. So wichtig war das alles nicht.
Sie warf einen kurzen Blick auf Jan – und sah ihm für einen winzigen Moment in die Augen.
Ihr Atem ging sofort schneller.
Er hatte zu ihr herübergeschaut.
Er hatte ihren Blick gesucht.
Diese Information war so köstlich, dass sie sich plötzlich ganz leicht fühlte.
Glücklich, ich bin glücklich nur wegen eines Blickes, dachte sie.
Wie absurd.
Winne Hermann setzte sich neben sie, und plötzlich diskutierte sie mit ihm über den Krieg in Afghanistan. Sie war froh, dass sie nun die offizielle Parteilinie vertreten konnte. Sie brauchte dringend etwas, an dem sie sich festhalten konnte. Sie redete sich absichtlich in Rage und vergaß Jan – fast.
Dann trat eine junge Frau durch die Tür, blonde lange Haare, Jeans, Kapuzenpullover. Sie zog einen Stuhl vom Nachbartisch heran und setzte sich neben ihn.
Ganz selbstverständlich.
Redete mit ihm.
Ganz selbstverständlich.
Der Krieg in Afghanistan war ihr plötzlich egal.
Bestimmt ist das seine Freundin, dachte sie.
Sie stand auf.
Sie musste die Notbremse ziehen, bevor sie sich in etwas Absurdes hineinsteigerte. Charlotte winkte den Kellner herbei, zahlte, verabschiedete sich, warf einen Gruß in die Runde und verließ das Lokal.
Leitner zu überwachen
Sie war spät nach Hause gekommen. Ihre Tochter lag ruhig atmend in ihrem Bettchen, den Stoffhasen ans Herz gedrückt. Das Au-pair-Mädchen, eine siebzehnjährige Schülerin aus Estland, die dritte, die bei ihr arbeitete, lag schlafend auf der Couch. Der Fernseher lief noch.
Sie ging in die Küche, schleuderte die Schuhe von den Füßen, ging barfuß an den Schrank und holte aus dem obersten Fach eine Flasche Rotwein, öffnete sie sorgsam, schenkte sich ein Glas ein und setzte sich an den Küchentisch.
Leitner war merkwürdig gewesen bei der Besprechung.
Ständig rieb er seine Handflächen an den Oberschenkeln. Jeder hatte irgendwie einen Tick, aber Leitners Tick machte sie aggressiv. Der Stoff seiner Hose war an den Oberschenkeln schon ganz abgewetzt. Warum macht der das, fragte sie
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