Das Multiversum 1 Zeit
Bildschirm um, den Malenfant betrachtete.
Das geodätische Netzwerk war auf einer großen kreisrunden Flä-
che aufgerissen. Es sah so aus, als ob eine riesige Faust es von innen durchschlagen und die Verstrebungen zerrissen hätte. Die Spitzen der beschädigten Streben glühten etwas heller als der Rest des Netzwerks; vielleicht fanden so etwas wie Reparaturarbeiten statt.
Und jenseits des beschädigten Netzwerks erkannte sie die Ereignishorizonte riesiger verschmelzender Schwarzer Löcher, von denen jedes vielleicht die Masse eines galaktischen Super-Clusters oder noch mehr hatte. Die Horizonte waren verzerrt, und erstarrte Lichtwellen mit einer Länge von Lichtjahren zogen sich über die kalten Oberflächen.
»Was meint ihr?« fragte Emma. »Ein Störfall?«
»Oder ein Krieg«, sagte Malenfant.
»Krieg? Am Ende der Zeit? Das ist doch verrückt.«
»Vielleicht auch nicht«, sagte Cornelius. »Diese Leute tragen die Verantwortung für die ganze Zukunft. Sie verwalten die letzten Energieressourcen des Universums. Und aus Verantwortung entspringen Meinungsverschiedenheiten und Spannungen. Konflikte eben.«
»Da sind wir nun so weit gekommen, um das zu erleben«, sagte Malenfant. »Wie deprimierend.«
»Nein«, sagte Cornelius unwirsch. »Wir haben keine Ahnung, was für eine Art von Bewusstsein diesen riesigen Strukturen inne-wohnt. Sie werden sich auf einer viel höheren Hierarchie des Bewusstseins bewegen als wir. Ihre Motive unterscheiden sich wahr-315
scheinlich so sehr von den unsren, dass wir sie nicht einmal zu er-ahnen vermögen …«
»Vielleicht«, knurrte Malenfant. »Aber ich bin nur ein dummer Homo Sapiens. Und wenn ich in dieser Kuppel lebte, dann würde ich überleben wollen, egal wie groß mein Gehirn ist. Und ich habe den Eindruck, dass sie einen verdammt schlechten Job gemacht haben.«
»Wie weit sind wir eigentlich gekommen?« fragte Emma zögernd.
Cornelius studierte wieder die Softscreens. »Die E-Systeme sind jetzt auch überfordert … Angenommen, wir setzen für diesen Sprung in die Zukunft die gleiche Skalierung voraus wie beim letzten Mal. Das verschlägt uns ungefähr zehn hoch hundert Jahre in die Zukunft. Was das bedeutet?« Er rieb sich die Stirn. »Für diese Unterlaufbewohner war die Frühzeit ihres Reichs – mit Vergrößerungsfaktoren von Zehn, Hundert oder sogar Zehntausend, als selbst mittelgroße Schwarze Löcher noch zu existieren vermochten –, für sie waren jene Zeiten der ›Frühling‹ des Universums. Und was uns betrifft, so sind wir ein Detail, eine Randnotiz des Urknalls, die im Nachglühen verloren ging.
Malenfant, ich hatte Sie einmal gefragt, ob Sie sich der Bedeutung Ihres Weltraumkolonisierungs-Projekts in letzter Konsequenz bewusst wären – wirklich bewusst wären. Die Herausforderung der Ewigkeit. Darum geht es, Malenfant. Genau darum.
Und die Verantwortung ist gewaltig. Wir müssen uns im Universum ausbreiten und es den menschlichen Nachfahren am Unterlauf der Zeit ermöglichen, das hier zu tun, den Winter so lang wie möglich zu überleben. Weil das nämlich die letzte Zuflucht ist.«
»Aber dieser Prozess wäre doch niemals abgeschlossen.« Malenfant runzelte die Stirn. »Das ist eine Strategie, die die Aussicht auf ewiges Leben eröffnet … nicht wahr?«
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»Nein«, sagte Cornelius bekümmert. »Jedenfalls glauben wir das nicht. Es ist ein Paradoxon. Man braucht eine Art Rahmen, eine Struktur, wo man Energie tankt und die Seele eine Heimat hat.«
»Die Disneyland-Sphäre.«
»Ja. Die Sphäre wächst mit der Zeit. Und selbst wenn Materie stabil wäre, was sie vielleicht nicht ist, muss die Struktur erweitert und instand gehalten werden. Die Wartungs-Anforderungen steigen mit der Zeit, weil der immer größeren Struktur immer weniger Energie zur Verfügung steht … Das ist eine heikle Sache, Malenfant. Das geht auf Dauer nicht gut. Die Nutzbarmachung der Schwarzen Löcher ist eine gute Idee – die beste Idee überhaupt –, aber letzten Endes werden sie scheitern.«
Plötzlich schwenkte die Kamera wieder herum. Der polierte Asteroid und das Portal kippten.
Der Ball bewegte sich. Halb hüpfte, halb rollte er aufs Portal zu.
Er hinterließ dabei eine Spur aus Vertiefungen und Schleifspuren auf der mit feinem metallischem Staub bedeckten Oberfläche des Asteroiden.
»Dann hat Sheena noch immer keinen Frieden gefunden«, sagte Emma traurig.
Die Kamera vollführte einen weiteren Schwenk, und Emma erhaschte einen letzten Blick auf das
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