Das Multiversum 1 Zeit
und Bänder an der Haut haften blieb, die er abstreifen und in die Schüssel zurückbefördern musste.
Und so weiter. Alles war seltsam. Manchmal hatte er das Gefühl, die Sache würde ihm über den Kopf wachsen, als ob er die Mechanik und Logik der Umgebung nicht mehr verstünde. Vielleicht ist dieses Gefühl ein Dauerzustand für Michael, sagte er sich.
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Es war eine Erleichterung, sich in die Koje zurückzuziehen, sich anzuschnallen, die Augen zu schließen, alle äußeren Eindrücke auszublenden und darauf zu warten, dass ein Gefühl der Normali-tät sich einstellte.
Doch selbst hier, im tiefsten Raum und ohne irgendwelche Sinnes Wahrnehmungen, spürte er etwas: die Entstehung seiner urei-gensten Gedanken, das Gefühl verstreichender Zeit, während er 367
stromabwärts in die Zukunft reiste – der tiefste und innerste Sinn überhaupt.
Es gab keine Wissenschaft, um das zu beschreiben. Die Gesetze der Physik waren zeitlich umkehrbar: Ihre Wirkung erstreckte sich in Vergangenheit und Zukunft gleichermaßen. Aber er wusste in der tiefsten Seele, dass Zeit für ihn nicht umkehrbar war, dass er sich auf einer Reise ohne Wiederkehr in die Zukunft befand, bis zu dem Punkt, wo der Strom der Zeit in den Ozean der Unendlichkeit mündete.
Wie seltsam und tröstlich zugleich diese Vorstellung doch war.
Er glitt in den Schlaf ab.
ESprecher der Milton-Stiftung:
Es macht uns betroffen, dass die psychologische Reaktion der All-gemeinheit auf die Nachrichten aus der Zukunft sich auf die Blauen Kinder konzentrieren. Sie müssen wissen, dass die Stiftungs-Schulen immer bestrebt waren, den Schutz und die Entwicklung der Kinder zu gewährleisten.
Als die Öffentlichkeit über die Kinder informiert und die ersten Schulen gegründet wurden, wirkte sich das für alle Beteiligten zu-nächst günstig aus. Die betroffenen Familien erfuhren, dass sie nicht die Einzigen waren und dass ihre superintelligenten Kinder Teil eines übergeordneten Phänomens waren. Dennoch geben die Kinder uns Rätsel auf. Zum Beispiel, dass sie so von diesen blauen Kreisen besessen sind.
Es gibt viele Theorien, die die Herkunft der Blauen Kinder und ihr plötzliches Erscheinen in der Welt erklären sollen. Vielleicht handelt es sich dabei um ein dramatisches Beispiel morphischer Resonanz. Vielleicht sind sie Aliens. Vielleicht repräsentieren sie einen Evolutionssprung – vielleicht lebt der Homo superior mitten 368
unter uns; Soldaten aus der Zukunft, die uns versklaven werden.
Und so weiter.
Vielleicht reine Hysterie. Aber die Menschen haben Angst.
Zuerst manifestierte die kollektive Angst sich subtil: Die Schulen wurden von den umliegenden Gemeinden isoliert. Ihnen wurden Ressourcen und der Zugang zur lokalen Infrastruktur entzogen.
Man verweigerte ihnen die Baugenehmigung für Anbauten und dergleichen.
In letzter Zeit hat die Lage sich verschlechtert. Deutlich verschlechtert.
Stiftungs-Schulen in Städten und Dörfern auf der ganzen Welt sind angegriffen worden: Gebäude, Personal und Schüler. Ein paar Kinder wurden verletzt, und ein Kind sogar getötet.
Und wir wissen auch, dass die Gewalt nicht nur auf die Schulen beschränkt ist, sondern dass die Kinder auch von ihren eigenen Eltern angegriffen werden.
Wir bedauern zutiefst gewisse Vorkommnisse an Stiftungs-Schulen. Wir streben ein Höchstmaß an Qualität bei der Betreuung der Kinder an. Ich muss jedoch betonen, dass die Milton-Stiftung keine direkte Kontrolle über die Schulen hat. Die Schulen sind unabhängige Einrichtungen, die nationalen und regionalen Bestimmungen unterliegen; dies entzieht sich unsrer Verantwortung. Wir versuchen aber, die Bedingungen zu verbessern, unter denen viele Kinder leben.
Wir widersetzen uns nicht der Schließung unsrer Schulen und der Überstellung der Kinder in staatliche Obhut. Es ist leicht, vor-eingenommen zu sein. Aber was sollen wir tun?
Zumal ein paar der schlimmsten Schulen amerikanisch sind.
Ach. Das wussten Sie nicht?
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(Name und Adresse sind der Redaktion bekannt): Sehr geehrter Herr,
In den Medien und sonstwo ist ausführlich über den Ursprung des Phä-
nomens der so genannten ›Blauen Kinder‹ spekuliert worden.
Vielleicht ist das nur ein statistischer Zufall – vielleicht haben diese Superkinder schon immer unter uns gelebt, und wir haben es nur nicht ge-merkt. Manche glauben natürlich, die Blauen Kinder hätten einen über-natürlichen oder gar göttlichen Ursprung. Ich habe eher den Eindruck, dass sie mutierte Produkte
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