Das Multiversum 1 Zeit
UN-Soldat, der sie in Empfang nahm.
Beim Durchgang durch die Schleuse roch Maura versengtes Metall, wo die Hülle dem Vakuum ausgesetzt gewesen war, und einen Hauch wie von Holzrauch: oxidierender Mondstaub. Die exotische Realität des Monds überlagerte diese Bürokratie und Passkontrolle im Stil des Kalten Kriegs.
Keiner der Buspassagiere – nicht einmal Bill Tybee – kam durch diesen ersten Kontrollpunkt. Niemand außer Maura.
Der Tunnel war transparent, ein Schlauch zwischen schwarzem Himmel und glühendem Boden. Maura reckte den Hals, lugte durch die Textilwände und erhaschte einen Blick auf Never-Never Land. Es war eine silbergraue Kuppel. Mit grünen Flecken im Innern. Etwas bewegte sich, wie ein schwankender Baumstamm. Gü-
tiger Gott, es war ein Hals.
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Kurz vor dem Eingang zum Komplex blieb ihr Führer stehen und wies auf die Anlage. »Die Kuppel ist polarisiert. Sie wird im Wechsel milchig und durchsichtig, um den irdischen Tag-Nacht-Zyklus zu simulieren. Und während der langen Nacht wird derselbe Effekt mit Lampen erzielt. Sehen Sie? Dort sind Batterien von Flutlichtern auf Türmen montiert, wie in einem Sportstadion.« Ihr Führer, eine Frau, hatte blondes Haar und blaue Augen, klassisch nordischer Typ. Minnesota? Aber ihr Akzent war neutral.
»Habe ich eben eine Giraffe dort drin gesehen?« fragte Maura.
Die Frau lachte. »Vielleicht. Wir halten es jedenfalls dafür.«
»Wissen Sie es denn nicht?«
»Ich habe nur eine Ermächtigung für die violette Stufe.«
»Wie lang sind Sie eigentlich schon hier oben?«
»Zwei Jahre, mit Unterbrechungen.«
»Sind Sie nicht neugierig?«
»Wir werden nicht dafür bezahlt, neugierig zu sein, Ma'am.«
Dann verrutschte die professionelle Maske etwas. »Eigentlich nicht. Never-Never ist nur ein Zelt, voll mit diesen verdammten kleinen Blauen Ungeheuern. Worauf sollte man da neugierig sein?
Aber Sie haben die Sicherheitsstufe Blau, nicht wahr?«
»Ja.«
»Ich schätze, Sie werden alles zu Gesicht bekommen, was Sie sehen wollen.«
Am anderen Ende des Durchgangs war wieder eine Luftschleuse mit einer weiteren Sicherheitsüberprüfung. Maura verabschiedete sich von der Führerin, deren einzige Aufgabe darin bestanden zu haben schien, Maura sage und schreibe zwanzig Meter auf dieser vierhunderttausend Kilometer langen Reise zu eskortieren.
Die Prozedur dauerte eine ganze Stunde. Ihr Pass und andere Be-scheinigungen wurden ein paarmal kontrolliert, sie selbst wurde einer zweimaligen Leibesvisitation unterzogen, durch einen Rönt-genapparat, einen Metalldetektor und durch weitere Scanner ge-575
schleust, die sie nicht zu identifizieren vermochte. Schließlich wurde sie aufgefordert, sich zu entkleiden, und unter eine Dusche geschickt, die sie heiß und kalt abbrauste und nach einem antiseptischen Mittel stank. Sie freute sich irgendwie, dass sie optisch besser in Form war als zu Hause. Dann blitzte es kurz, und ein stechender Schmerz durchfuhr sie. Ein feines Pulver überzog ihre nackte Haut.
Danach bekam sie eine frische Kleidergarnitur, Unterwäsche und einen Overall. Der Overall hatte keine Taschen, nur einen durchsichtigen Beutel an der Vorderseite, in dem sie den blauen Sicher-heitsausweis und den Pass, ein Taschentuch und andere Kleinigkei-ten verstauen durfte.
Sie wurde wieder durch einen durchscheinenden Korridor ge-führt – einen letzten Blick auf den Mond –, und dann ging sie in Begleitung von zwei Soldaten (es musste dutzende hier geben, sagte sie sich, die ein Schweinegeld kosteten) durch die gewölbte Wand von Never-Never Land.
Und dann hatte sie Gras unter den weichen Schuhen und eine blauschwarz glühende Kuppel überm Kopf, die wiederum von einem großen Schatten überlagert wurde; einem Schatten, der von Tychos Randbergen geworfen wurde.
Sie sah ein paar Büsche und einen einzelnen großen Baum. Die Luft war kühl, frisch und roch nach grüner Vegetation, nach einem frisch gemähten Rasen. Grünes Gras wuchs auf dem Mond.
Das hätte sie sich in ihren kühnsten Träumen nicht vorgestellt.
Ein Mädchen stand vor ihr: vielleicht sechzehn Jahre alt, gerten-schlank und barfuß. Bekleidet war sie mit einem schlichten orangefarbenen Gewand, auf dessen Brustpartie ein hellblauer Kreis ge-näht war. Ihr Gesicht war nicht schön, fand Maura, aber es war ruhig, gefasst und beherrscht. Zentriert. Ihr fehlte ein Zahn im Unterkiefer.
Es war Anna. Und sie hatte Flügel.
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»Es ist schön, Sie wiederzusehen, Ms. Della«, sagte Anna
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