Das Multiversum 1 Zeit
für sie) und schlurfte über den Teppich. Der Flor kitzelte die frisch gewaschenen Füße. Er packte den Türknauf. Diesmal ging die Tür ganz leicht auf.
Dahinter erstreckte sich ein Korridor, der aber irgendwie verschwommen war, als ob er ihn nicht richtig sehen würde.
»Schlecht simuliert«, murmelte er.
Etwas in der Art. Ein Seattle-Akzent.
»… Ja.« Er schaute nach unten.
Es war Michael.
■
Der Junge stand lässig da, die Hände in die Seite gestemmt. Er trug eine golden-orangefarbene Springerkombi mit einem blauen Kreis an der Brust, genauso wie in diesen verdammten Schulen.
»Du bist Michael«, sagte er.
Ja. Der Junge machte einen sauberen, gesunden Eindruck. Er hatte einen klaren Blick und er wirkte sogar glücklich. Nur die 617
Stimme, die aus seinem Mund kam, war unheimlich – sie stammte von der alten Softscreen-Simulation, der Seattle-Matrone mit der nasalen, leicht verwaschenen Jahrmarkt-Ansagerstimme.
»Ich meine«, sagte Malenfant, »du bist ein Simulacrum von Michael. Ein Programm, das in irgendeinem endzeitlichen, gott-gleichen Computer abläuft.«
Der Junge schien verwirrt.
Malenfant beugte sich in den Korridor hinaus. Er vermochte nicht weiter als ein paar Meter in jede Richtung zu sehen, obwohl er den Grund dafür nicht verstand. Der Boden war mit dem gleichen purpurnen Teppich ausgelegt. Andere Türen gab es nicht.
»Was, wenn ich diesen Gang entlang ginge?«
Ich weiß nicht.
»Wird man mehr von diesem virtuellen Kram erzeugen? Wird der Raum verschwinden?«
Finden Sie es doch heraus.
Malenfant dachte darüber nach und seufzte dann. »Ach, zum Teufel damit. Du kommst besser rein.«
Michael ließ den Blick durch den Raum schweifen wie jedes neugierige Kind, sprang aufs Bett und hüpfte auf und nieder. Malenfant schloss die Tür. Dann versuchte er sie wieder zu öffnen. Na-türlich war sie fugenlos mit der Wand verschmolzen und ließ sich nicht mehr öffnen.
»Das Fernsehgerät funktioniert nicht«, sagte Malenfant.
Michael zuckte die Achseln und spielte mit der leeren Whiskyflasche.
»Möchtest du etwas aus der Minibar?« fragte Malenfant.
Michael ließ sich das lang durch den Kopf gehen, als ob diese Entscheidung die wichtigste wäre, die er je getroffen hatte. Erdnüs-se, sagte er mit dieser unheimlichen Stimme eines Erwachsenen im mittleren Alter.
»Natur oder geröstet?«
618
Was haben Sie denn?
»Mein Gott.« Malenfant ließ sich auf Hände und Füße hinab und stöberte in der Minibar. Er brachte zwei Beutel zum Vorschein. Einen davon warf er dem Jungen zu. Es stellte sich heraus, dass Michael naturbelassene Nüsse hatte und Malenfant geröstete.
Michael deutete auf die gerösteten, also tauschten sie.
Malenfant warf sich eine Nuss ein. »Zu salzig«, sagte er.
Michael zuckte die Achseln. Die hier sind okay.
»Das ist eine Art Klischee, weißt du«, sagte Malenfant. »Das Virtuelle Realität-Hotelzimmer.«
Sie mussten aus diesem Raumanzug raus.
»Wohl wahr. Also«, sagte Malenfant, »da wären wir nun. Wo, zum Teufel …? Nein, vergiss es. Wir sind Programme, die auf einem großen Computer am Ende der Zeit laufen. Richtig?«
Ja. Nein. Das ist… hmm … ein Substrat.
»Ein Substrat?« Malenfant schnippte mit den Fingern. »Ich weiß.
Die verlustlosen Prozessoren, die wir in der weit entfernten Zukunft gesehen haben. Der träumende Computer.«
Michael zog die Stirn kraus. Aber Sie sind doch Malenfant.
»Dieselbe Person, die ich zuvor war?«
Natürlich. Wer sonst?
»Aber das ist unmöglich. Der Malenfant hat sich selbst in die Luft gejagt. Ich vermag mir zwar vorzustellen, dass das Portal Informationen über mich gespeichert und sie an die ferne Zukunft übermittelt hat, worauf ich hier in diesem …« – er machte eine ausladende Handbewegung – »diesem virtuellen Bates-Motel rekonstruiert wurde. Aber ich bin nicht ich.«
Michael schaute irritiert. Sie sind Sie. Ich bin ich. Information ist das Wichtigste überhaupt. Es gab mal einen deutschen Philosophen namens Leibniz.
»Nie von ihm gehört.«
619
Wesenheiten, die nicht einmal im Grundsatz auf irgendeine Art und Weise unterschieden werden können, müssen zu jeder Zeit in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als identisch gelten. Dies ist das Prinzip der Identität des Ununterscheidbaren. Sie sind es wirklich, Malenfant, wie Sie leiben und leben.
Malenfant starrte ihn an. Der ganze Vortrag war mit dieser al-bernen, kratzigen Stimme einer Frau im mittleren Alter erfolgt.
Die Illusion
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