Das Multiversum 2 Raum
muss immer mehr Welten und Sterne in Besitz nehmen und zu den nächsten weitereilen …«
Ben übte sich im Kopfrechnen. »Diese Vorhut müsste sich in ein paar Jahrhunderten mit Lichtgeschwindigkeit bewegen.«
»Stellen Sie sich vor«, sagte Nemoto düster, »was es bedeuten würde, eine Welt im Sog einer solchen Welle zu besiedeln. Es wäre der Inbegriff der Ausbeutung, die Welten und Sterne wie ein Lauf-feuer verwüsten und Tod und Verderben bringen würde. Wenn die Ressourcen im Lichtgeschwindigkeits-Käfig schließlich erschöpft sind, kommt unvermeidlich der Crash. Erinnern Sie sich an die Venus. Erinnern Sie sich an Polynesien.«
»Polynesien …?«
»Die beste Analogie, die es in der Menschheitsgeschichte zu interstellarer Kolonisation gibt«, sagte Ben. »Die Polynesier breiteten sich für mehr als tausend Jahre über die pazifischen Inseln aus, insgesamt über dreitausend Kilometer. Ums Jahr 1000 hatte die Kolonisations-Wellenfront sich schließlich totgelaufen, denn jedes Fleckchen Erde war besiedelt. Sie hatten sich gegenseitig blockiert; alle umliegenden Inseln waren bevölkert, und sie hatten keinerlei Ausweichmöglichkeiten mehr.
Auf den Osterinseln zerstörten sie in ein paar Generationen das Ökosystem. Sie holzten die Wälder ab, sodass der Mutterboden weggeschwemmt wurde. Am Ende hatten sie nicht einmal mehr genug Holz, um Kanus zu bauen. Dann führten sie Krieg um das, was noch übrig war. Und kurz bevor die Europäer erschienen, hatten die Polynesier sich selbst ausgelöscht.«
»Denken Sie darüber nach, Meacher«, sagte Nemoto. »Über den Lichtgeschwindigkeits-Käfig. Stellen Sie sich dieses System komplett bevölkert vor. Es befand sich weit hinter der Kolonisierungs-Wellenfront und war von Systemen umgeben, die genauso dicht bevölkert – und genauso schwer bewaffnet – waren. Und ihnen 294
gingen die Ressourcen aus. Es gab sicher mehr Weltraumbewohner als Planetenbewohner, aber sie hatten die Asteroiden und Kometen schon ausgebeutet. Also suchten die Weltraumbewohner sich einen Planeten aus. Die Bewohner wurden erstickt, ertränkt, gebraten.«
»Ich glaube es nicht«, sagte Madeleine. »Eine intelligente Gesellschaft würde diese Gefahren doch lange zuvor erkennen, ehe sie sich zu Tode vermehrt.«
»Die Polynesier haben es jedenfalls nicht erkannt«, sagte Ben trocken.
Die Blüten des Blumen-Schiffs öffneten sich erneut, und sie zogen sich von dem gefledderten und geschundenen Planeten in die Stille und Dunkelheit des äußeren Systems zurück.
■
Es war wieder an der Zeit, zum Ikosaeder-Gott zu sprechen. Der zweite Röntgenlaser wurde in Stellung gebracht.
Ben hatte die Aufzeichnungen der letzten Aktion studiert und wusste, dass die Konfiguration des Ikosaeder-Artefakts die Richtung des resultierenden Strahls bestimmte. Madeleine sah, wie der Kern in den Brennpunkt wanderte. Der Killer-Strahl würde sich wieder durch die Akkretionsscheibe bohren – und diesmal mitten in die größte Welt der Chaera.
Millionen Chaera würden sterben. Madeleine sah förmlich, wie sie sich in der Akkretionsscheibe tummelten und ihren Verrichtungen nachgingen.
Ihr Chaera-Passagier trieb im Tank wie eine zerfließende Uhr von Dali.
»Nemoto, wir dürfen den zweiten Schuss nicht abgeben«, sagte Madeleine.
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»Aber sie kennen die Konsequenzen«, sagte die virtuelle Nemoto ungerührt. »Die Chaera haben das Artefakt in der Vergangenheit schon mehrmals mit Spiegeln und Rauchzeichen in Wallung versetzt. Jedes Mal sind ein paar von ihnen umgekommen. Aber sie brauchen die Gammastrahlen-Nahrung … Meacher«, sagte sie, »funken Sie hier nicht dazwischen, wie Sie es beim Gammastrahler getan haben. Wenn Sie das nicht sein lassen, werden die Gaijin die Menschen vielleicht von zukünftigen Missionen ausschließen.
Und wir werden nichts mehr über Systeme wie dieses erfahren. Wir werden keine Informationen mehr bekommen und keine Pla-nungsgrundlage mehr haben … Außerdem ist der Laser schon ausgerichtet. Es ist nicht mehr aufzuhalten.«
»Die Chaera wollen es so, Madeleine«, sagte Ben sanft. »Das ist ihre Kultur. Sie sind bereit, für das zu sterben, was sie als Vollkommenheit betrachten.«
Nemoto zitierte die Chaera. »Sie weiß, dass wir hier debattieren.
›Wo es Prophezeiungen gibt, werden sie enden. Wo es Sprache gibt, wird sie verstummen; wo es Wissen gibt, geht es verloren.
Denn wir wissen einen Teil, und wir prophezeien einen Teil, doch wenn die Vollkommenheit naht, weicht das
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