Das Multiversum 2 Raum
Unvollkommene.‹«
»Wer ist dieser Philosoph?«, fragte Madeleine sarkastisch. »Ein großer Denker der Chaera aus der Vergangenheit?«
Ben lächelte. »Sie hat den Heiligen Paulus zitiert.«
Nemoto schaute genauso verdutzt wie Madeleine.
»Aber es bleiben trotzdem Fragen offen«, sagte Ben. »Es ist unwahrscheinlich, dass die Chaera dieses Artefakt gebaut haben. Da-für wirken sie einfach zu primitiv. Schließlich wird hier die Gravitationsquelle eines Schwarzen Lochs manipuliert. Vielleicht haben ihre Vorfahren dieses Ding erbaut. Oder eine frühere Welle von Kolonisten, die durch dieses System gekommen sind.«
»Ihr Denken ist zu oberflächlich«, flüsterte die virtuelle Nemoto.
»Das Augengewebe der Chaera enthält Salzwasser. Sie müssen sich 296
also auf einer Welt mit Meeren entwickelt haben. Hier sind sie nicht entstanden.«
»Wieso sind sie dann hier?«, fragte Madeleine unwirsch.
»Weil sie keine andere Möglichkeit hatten«, sagte Nemoto. »Sie sind hierher geflohen – und haben sich vielleicht sogar selbst modifiziert. Sie scharten sich um ein Artefakt, das von einer früheren Kolonisierungswelle hinterlassen worden war. Sie wussten, dass niemand sie in eine solch gefährliche und instabile Gegend wie diese verfolgen würde.«
»Sie sind also Flüchtlinge.«
»Ja. Wie wir in der Zukunft vielleicht auch welche sein werden.«
»Wovor sind sie geflohen?«
»Vor den Ressourcen-Kriegen«, sagte Nemoto. »Vor dem Wasserstoff-Ersticken ihrer Welt. Wie die Polynesier.«
Das Kern-Artefakt erzitterte.
Nemoto redete unablässig weiter. »Dieses unser Universum ist ein Ort mit Grenzen und grausamen Gleichungen. Die Galaxis muss voll von solchen Lichtgeschwindigkeits-Käfigen sein, die höchstens ein paar hundert Lichtjahre groß sind und eine Falle für die exponentiell wachsenden Populationen darstellen. Und nachdem die ausgeschlachteten Welten dann brach gelegt wurden und sich in den langsamen Prozessen der Geologie und Biologie rege-neriert haben, geht das ganze mörderische Spiel wieder von vorne los … Das ist unsre Zukunft, Meacher. Unsre Zukunft und Vergangenheit. Es ist immerhin ein gewisser Gleichgewichtszustand: Der Kontakt, die ruinöse Ausbeutung, der Crash, der multiple Untergang – immer und immer wieder. Und nun sind wir an der Reihe.
Die Gaijin fressen sich bereits durch unsren Asteroiden-Gürtel. Erkennen Sie nun, wogegen ich kämpfe …?«
Madeleine erinnerte sich an den Gammastrahler und den alle vierzehn Sekunden wiederkehrenden Tod der Sternen-Flechten. Sie erinnerte sich an die Venus und Australien, die Spuren vor-297
zeitlicher Kriege sogar im Sonnensystem – die Relikte einer früheren, längst ausgebrannten Kolonisationsblase.
Musste das denn sein?
Etwas in ihr lehnte sich dagegen auf. Zum Teufel mit den Theo-rien! Die Chaera waren real, und Millionen von ihnen waren vom Tod bedroht.
Und dann kam ihr die Erkenntnis, dass sie doch etwas zu tun vermochte.
»Verdammt … Ben. Hilf mir. Geh runter ins FGB-Modul. Schaff alles dort raus, was wir noch brauchen werden.«
Ben ließ sich das für eine Weile durch den Kopf gehen und nickte dann. »Ich vertraue auf deine Instinkte, Madeleine.«
»Gut«, sagte sie. »Nun muss ich ein paar Berechnungen anstellen.« Sie eilte zu den Instrumentenkonsolen.
■
Ben trug ihr Forschungsmaterial zusammen: Die biologischen und medizinischen Proben, die sie von ihren Körpern genommen hatten, Datenträger, Filmpatronen, Notebooks und Resultate der ast-rophysikalischen Experimente, die sie in der Nähe des Schwarzen Lochs durchgeführt hatten. Es gab hier nur wenige persönliche Ausrüstungsgegenstände, weil die Schlafkabinen sich in der Versorgungskapsel befanden.
Madeleine warf einen letzten Blick durchs Fenster des FGB-Moduls ins rauchige Licht der Akkretionsscheibe. Das Blumen-Schiff flog in geringem Anstand an der Flanke ›Gottes‹ vorbei; die Netz-struktur flatterte um den pulsierenden Kern.
Die Chaera tobte im Tank.
Ben zog die schwere Luke zwischen den Modulen zu – sie war nicht mehr geschlossen worden, seit das Blumen-Schiff sie von der 298
Oberfläche des Erdmonds fortgerissen hatte – und verriegelte sie.
Madeleine ließ in aller Eile ein Computer-Programm ablaufen.
»Erinnerst du dich an den Drill für ein Leck in der Druckhülle?«, rief sie.
»Natürlich. Aber …«
»Drei, zwei, eins.«
Sprengbolzen knatterten, und ein Ruck ging durchs Schiff.
»Ich habe soeben das FGB abgestoßen«, sagte sie. »Die
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