Das Multiversum 2 Raum
ein leicht geöffneter Mund – Signale, die Frauen seiner Art zu seiner Zeit auf der ganzen Welt ausgesandt hatten.
Aber so verhielten Neandertaler-Frauen sich nicht. Sie kokettier-ten nicht mit ihren Reizen, sagte er sich.
Zumal eine Kreuzung zwischen Menschen und Neandertalern wahrscheinlich ohnehin unmöglich war. Außerdem hatten ein paar hunderttausend Jahre getrennter Entwicklung sie bestimmt mit unterschiedlichen Flirtsignalen ausgestattet. Ihm dämmerte, wie es vielleicht in der tiefen Vergangenheit gewesen sein mochte: Dass Vertreter zweier gleichwertiger, entwicklungsfähiger, kommu-nikativer, neugieriger menschlicher Spezies mit einem reichen Ge-fühlsleben zusammen in einen engen Raum hätten gesperrt werden können, ohne dass bei ihnen auch nur die geringste Regung erfolgt wäre. Sehr bedauerlich.
Er stellte sich vor, wie Valentina ihn mit ihrer plumpen Hand bei den Eiern packte – und seine Erektion schmolz dahin.
552
■
Die Neandertaler hielten eine Zeremonie ab.
Sie zogen die Bodenmatte des Zelts zurück, sodass der karmesin-rote Untergrund zum Vorschein kam. Das Zelt wurde von einem stechenden, bleicheartigen Gestank erfüllt: Schwefeldioxid.
Die Neandertaler hoben ein Grab aus. Sie benutzten dazu ihre kräftigen Hände, wobei sie effektiv zusammenarbeiteten. Ab einer Tiefe von etwa einem Meter hoben sie Material in einem kräftigen Orange und Blau aus.
Malenfant betrachtete es neugierig: Dies war schließlich Material von Io. Es sah aus wie zerbröseltes Gestein, war aber orangefarben, gelb und grün gefärbt: Schwefelverbindungen, vermutete er, die das Gestein durchsetzt hatten. Es gab auch reinen Schwefel in Form zerfallender gelber Kristalle.
Das tiefere Material sah aus, als wäre es von Flechten durchzogen.
Es war weitgehend farblos, ein mattes Grau, zum Teil grün und purpurn. Malenfant war kein Biologe, aber er wusste, dass es auf der Erde Bakterienarten gab, die in sauren und schwefelhaltigen Umgebungen ohne Sauerstoff gediehen, zum Beispiel in Vulkankratern. Vielleicht fand hier wirklich Photosynthese statt. Oder vielleicht basierten die Abläufe auf einer exotischen Chemie. Es mochte Untergrund-Reservoirs geben, wo Pflanzen Energie speicherten, indem sie Schwefeldioxid in instabile Verbindungen wie Schwefeltrioxid umwandelten; und vielleicht gab es sogar primitive Tiere, die das Zeug einatmeten und zur Energiegewinnung elemen-taren Schwefel verbrannten …
553
In wissenschaftlicher Hinsicht war das sicher interessant, sagte er sich. Aber er würde es nie erfahren. Außerdem war er nicht im Dienst der Wissenschaft hier, genauso wenig wie die Neandertaler.
Und überhaupt ist Leben im Kosmos etwas Universelles, Malenfant. Der Tod anscheinend auch.
Nachdem sie das Grab ausgehoben hatten, senkten sie den Leib von Esau hinab. Valentina stieg mit ihm ins Grab und brachte ihn in eine Art Embryostellung. Dann stattete das Mädchen den alten Mann mit ein paar Grabbeigaben aus, Dinge, die ihm vielleicht wichtig gewesen waren: Eine Flöte zum Beispiel, die aus einem Oberschenkelknochen geschnitzt zu sein schien.
Und dann schob Valentina Esau den Totemstab, die Stange von Kintu in die starre Hand.
Danach verharrte Valentina für eine lange Zeit im Grab bei dem Leichnam. Es wurden viele Zeichen gewechselt; Malenfant vermochte nur wenige zu deuten, aber er erkannte einen rhythmi-schen Fluss der Zeichen, die von den Zuschauern am Grab ausgingen. Er vermutete, dass sie sangen.
Als Valentina schließlich aus der Grube stieg, besserte sich auch Malenfants morbide Stimmung. Die Neandertaler warfen den Aushub von Io ins Grab zurück.
Und dann – kurz bevor das Grab wieder gefüllt war, drehte Esau den geschrumpften Kopf und hob einen spindeldürren Arm.
Öffnete verklebte Augen.
Die Neandertaler schaufelten das Grab ungerührt weiter zu.
… Aber er lebt doch noch! Malenfant erstarrte; er wusste nicht, was er sagen oder tun sollte.
Kümmere dich um deinen eigenen Kram, Malenfant. Sei froh, dass sie das nicht auch mit dir gemacht haben.
Danach fiel es ihm schwer, einzuschlafen. Er glaubte, immerzu ein Kratzen und Scharren im Boden unter sich zu vernehmen.
554
■
Er schreckte aus dem Schlaf.
Ein helles xenonblaues Glühen drang unter der Bodenmatte hervor und leuchtete das kegelförmige Zelt aus. Ein Glühen, das aus dem Grab des Alten kam.
Malenfant hatte dieses Glühen zuvor schon gesehen: Tausend Astronomische Einheiten von der Erde entfernt, im Licht anderer Sonnen, im
Weitere Kostenlose Bücher