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Das Multiversum 2 Raum

Das Multiversum 2 Raum

Titel: Das Multiversum 2 Raum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Baxter
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im Stich.
    Sie konzentrierte sich auf ihren klapprigen Körper: Die Schmerzen in den allzu dünnen, langen und spröden Knochen, die 561
    Schmerzattacken in der Blase, das seltsame Jucken auf der leberfleckigen Haut. Sie war einfach schon zu alt. Der Spiegel reflektierte genug Wärme, damit die Meere in der langen Mond- Nacht nicht zufroren und die Luft nicht ausgefällt wurde. Etwas mehr Komfort hätte sie sich trotzdem gewünscht.
    Sie machte kehrt und stapfte über den Regolithpfad zum Haus zurück.
    Als sie dort ankam, wartete Berge, ihr Enkel, schon auf sie. Da wusste sie natürlich noch nicht, dass er den neuen Tag nicht überleben würde.
    Er wollte unbedingt über Leonardo da Vinci sprechen.
    ■
    Berge hatte die Schwingen abgelegt und sie an die Betonwand des Hauses gelehnt. Sie sah, dass die Schwingen mit einer Reifschicht überzogen waren – so dick, dass die Papierfedern sicher kaum noch Spiel hatten. Obwohl er schon vor ein paar Minuten gelandet war, war er noch immer außer Atem, und der modisch kahlge-schorene Kopf, dessen beachtliche Größe ihn als Mondgeborenen auswies, war mit Schweißperlen übersät.
    Sie schalt ihn, noch während sie ihn ins Warme brachte und ihm in den Drucktöpfen heiße Suppe und Tee zubereitete. »Du bist genauso ein Narr wie dein Vater«, sagte sie. Sein Vater war na-türlich Xenias Sohn gewesen. »Ich hatte mit eigenen Augen gesehen, wie er vom Himmel fiel und dich zur Waise gemacht hat. Du weißt doch, wie gefährlich die Turbulenzen vor der Morgendämmerung sind.«
    »Ja schon, aber die Kraft der Thermik, Xenia«, sagte er und schlürfte die Suppe. »Ich kann kilometerhoch fliegen, ohne mich im geringsten anzustrengen …«
    562
    Nur Berge nannte sie Xenia.
    Sie hätte die Strafpredigt am liebsten fortgesetzt, was auch ein Vorrecht ihres hohen Alters gewesen wäre. Aber sie brachte es nicht übers Herz. Da stand er vor ihr, voller Eifer und zum Erbar-men dürr. Berge war immer schon schlank gewesen, sogar im Vergleich zu den anderen Mondgeborenen; doch nun war er nur noch Haut und Knochen.
    Und was am merkwürdigsten war, seine Haut schien in einem wächsernen goldenen Glanz zu schimmern. Sie verzichtete darauf, sich dazu zu äußern – nicht hier und jetzt, nicht ehe sie sicher war, was das zu bedeuten hatte und dass die Augen, mit denen sie altersbedingt gelbstichig sah, ihr keinen Streich spielten.
    Also hielt sie sich zurück.
    Sie sprachen das rituelle Gebet – murmelten etwas davon, dass sie ihren Leib der Erlösung der Welt stiften wollten – und aßen die Suppe auf.
    Und dann hielt Berge mit jugendlichem Elan den Vortrag über Leonardo da Vinci, einen lang toten Bewohner eines lang toten Planeten. Er schien es kaum erwarten zu können. Schwungvoll stellte er die leeren Suppenschüsseln auf den Boden, zog Papiere aus der Jackentasche und breitete sie vor ihr aus. Die vergilbten und durchs Alter fleckigen Blätter waren mit einer krakeligen, un-leserlichen Handschrift und vereinzelten Skizzen von Gerätschaften, fließendem Wasser und geometrischen Figuren versehen.
    Sie zeigte auf eine eindrucksvolle Skizze der aufgehenden Erde …
    »Nein, Xenia«, sagte Berge geduldig. »Das ist nicht die Erde.
    Denk doch mal nach. Es muss der aufgehende Mond gewesen sein.« Er hatte natürlich recht; sie lebte schon zu lang auf dem Mond. »Siehst du, Leonardo verstand das Phänomen, das er den aschenen Mond nannte – wie unsre aschene Erde, die alte Erde, die in den Armen der neuen zu sehen ist. In dieser Hinsicht war er seiner Zeit um hundert Jahre voraus.«
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    Dieses Papier hatte in seiner langen Geschichte viele Namen gehabt, von denen ›Codex Leicester‹ der bekannteste war. Berges Kopie war während des Scheiterns angefertigt worden, dieser turbulenten Zeit, als die dem Untergang geweihten Bibliotheken des Mondes Unmengen Papier produziert hatten – ein letzter verzweifelter Versuch, das gespeicherte elektronische Wissen zu retten, ehe die Energie versiegte. Es war eine Abhandlung über das Thema, das Leonardo als den ›Körper der Erde‹ bezeichnete, jedoch mit Ergän-zungen unter Berücksichtigung des Wasserbaus, der Geometrie von Erde und Mond und der Ursprünge der Fossilien.
    Der Aspekt der Fossilien hatte es Berge besonders angetan. Leonardo hatte sich für Fossilien von Meerestieren – Fische, Muscheln und Korallen – interessiert, die man hoch oben in den Gebirgen Italiens gefunden hatte. Weil er aber nichts von tektonischen Vorgängen wusste, hatte

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