Das Multiversum 3 Ursprung
das sich immer so gern wichtig tat. Manchmal setzte er sich hin und arbeitete stundenlang an einer Axt, wobei er mal hier, mal da einen Splitter abhieb. Es war, als ob er von einem unerfüllbaren Traum der Symmetrie oder Feinheit geleitet würde und die Axt weit über den Punkt hinaus bearbeitete, wo er ihren Nutzen noch zu steigern vermochte.
Oder, was noch seltsamer war, er setzte sich vor einen Steinhaufen und fertigte Äxte im Akkord. Doch waren diese ›Äxte‹ zum 170
Teil nur Splitter mit der Größe von Emmas Daumen oder aber solche Brocken, dass er sie wie ein offenes Buch nur mit beiden Händen zu halten vermochte. Diese krankhaften Entwürfe schienen als Werkzeug nutzlos zu sein; Stein trug sie nur für eine Weile mit sich herum und sorgte dafür, dass jeder sie sah, ehe er die un-benutzten Gegenstände mit den scharfen Kanten einfach wegwarf.
Emma wusste nicht, weshalb Stein das tat. Vielleicht war das ein Hauch von Kultur: Faustkeile als Kunstform. Der Faustkeil war schließlich das einzig bedeutende Artefakt, das sie überhaupt fertigten; die anderen ›Werkzeuge‹ wie die Stöcke zum Stochern nach Termiten und sogar die Speere waren kaum mehr als Holz-und Knochensplitter, die auf zufälligen Funden von Rohmaterial beruhten und kaum bearbeitet wurden. Der Faustkeil war die einzige Möglichkeit, mit der die Läufer sich auszudrücken vermochten.
Aber wenn das so war, wieso beteiligten die Frauen sich dann nicht an solch ›künstlerischen‹ Übungen. Oder vielleicht hatten die nutzlosen Faustkeile auch eine sexuelle Symbolik anstatt eines praktischen oder kulturellen Bezugs. Schließlich war die Fertigkeit, einen brauchbaren Faustkeil zu fertigen, Ausweis einer ganzen Palette von Fähigkeiten – Planungsvermögen, Weitsicht, handwerkliche Fertigkeiten, Kraft –, die zum Überleben in dieser Wildnis un-erlässlich waren. Schaut mich an, Mädels. Ich bin so fit und stark und wohlgenährt, dass ich Zeit für diese nutzlosen Kavenzmänner und dau-mennagelgroßen Miniaturen verschwenden kann. Schaut mich an! Wenn nämlich jeder um einen herum wie ein Adonis aussah, musste man sich anderweitig von der Masse abheben.
War das möglich? Die Planung, Umsicht und Konzentration bei der Fertigung der Äxte verlieh den Läufern durchaus menschliche Züge. Und dann verloren sie diese Menschlichkeit wieder und fielen auf eine niedere Instinktebene zurück, indem die Äxte zum Symbol sexueller Potenz wurden, ähnlich dem bunten Gefieder balzender Vögel.
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Damit wurde sie aufs Neue daran erinnert, dass, egal wie menschlich diese ästhetischen Geschöpfe auch aussahen, sie eben keine Menschen waren. Ihre kleinen Köpfe enthielten Splitter von Menschlichkeit, sagte sie sich, die in einem Meer animalischer Triebe und Instinkte schwammen: Manchmal waren sie Menschen, dann wieder nicht …
Oder vielleicht war sie auch nur anthropomorph. Vielleicht sollte sie die Läufer nicht mit sich vergleichen und ihnen menschliche Eigenschaften zuerkennen oder absprechen; die Läufer waren ganz einfach Läufer, und sie fügten sich so in ihre Welt ein, wie Emma in ihre.
Obwohl die Wanderung schon seit einer Stunde beendet war, ging Feuer noch immer mit verschränkten Händen umher. Er durfte die heiße Fracht nicht fallen lassen, ehe die anderen Zunder und Brennmaterial für ihn beschafft hatten. Und solang die Sonne noch am Himmel stand und die Luft warm war, hatten sie dazu auch keine Veranlassung – sie schienen nicht einmal auf diesen Gedanken zu kommen. Also musste Feuer ausharren.
Aber er hatte nicht nur das Feuer im Kopf. Er stellte vergeblich Graben, einem der Mädchen nach: Ein steiler Zahn, sagte Emma sich, mit seidigem kastanienbraunem Haar, vollen hohen Brüsten und göttlichen Hüften. Der arme Feuer schien keine Ahnung zu haben, wie er an sie herankommen sollte; er lief ihr nur hinterher, bot ihr die Handvoll Asche dar und rief kläglich ihren Namen.
»Graben! Graben!«
Der Feuerträger zu sein, war offensichtlich eine Schlüssel-Position, ein Eckstein dieser ungeordneten kleinen Gemeinschaft.
Doch soweit Emma sah, trug Feuers Rolle ihm nicht den Respekt der anderen Läufer ein, schon gar nicht den der Männer. Jeden Abend entfachte er mit der Glut ein Feuer und wurde mit Knüffen und Schlägen verscheucht. Er schien der Prügelknabe zu sein.
Auf jeden Fall vermochte er mit der Asche nicht mit den Faust-172
keilen der anderen Jungen und Männer um die Gunst der Mädchen zu konkurieren.
Diesmal gelang
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