Das Multiversum 3 Ursprung
die Stimme ihrer Mutter, die ihren Namen rief.
Sie eilte geduckt und mit wirbelnden, kraftvollen Beinen den Pfad hinauf, wobei sie sich mit den Knöcheln abstieß. Unterwegs wurde sie von unreifen, aber schon diensteifrigen Arbeitern angeru-228
fen, deren blecherne Stimmen aus missgebildeten Mündern drangen. Weidenblätter drehten sich in ihrem Schatten, um das ganze Licht des Acht-Stunden-Tags einzusaugen.
Sie kehrte zum Raum ihrer Mutter im Herzen der Farm zurück.
Unglücklich betrat sie das Zimmer und ging ans Bett.
Das Bett ihrer Mutter sah aus wie ein simples sechseckiges Nest, das aus belaubten Ästen gebaut war. In Wirklichkeit handelte es sich um eine Ansammlung halb-empfindungsfähiger Arbeiter, die die Aufgabe hatten, die Nester aus Weiden-und Birkenästen zu imitieren, die zu bauen schon die kleinen Kinder lernten. Es war nach Manekatos Vorlage von Arbeiter -Künstlern gebaut worden, die zwölf Generationen von den primitiven selbst-rekursiven Geschöpfen entfernt waren, die draußen auf den Feldern wuchsen.
Der Boden des Raums war eine Grube, die mit verdichtetem weißem Staub gefüllt war. Der Staub waren die pulverisierten Knochen ihrer Vorfahren. Eines Tages würde man Nekatopos Knochen in die Grube füllen, und nicht allzu viele Jahre später auch Manekatos. Niemand wusste, wie tief die Staub-Grube sich erstreckte. Manekato spürte den feinkörnigen Staub, aber es blieb kein Körnchen am Fuß haften.
Nekatopo öffnete die Augen.
»… Mutter?«
»Ach, Mane, Mane.« Das war eine Koseform, die sie nicht mehr benutzt hatte, seit Manekato ein Baby war. Sie streckte die Arme nach ihr aus; sie waren welk und schwach.
Manekato umarmte sie und spürte, wie die Tränen ihr Brusthaar benetzten.
»Ach, Mane, es tut mir so Leid. Aber du musst zum Markt gehen.«
Manekato runzelte die Stirn. Sie wusste nämlich, dass seit den Zeiten ihrer Großmutter keine Frau mehr auf den Markt gegangen 229
war. Manekato selbst hatte nie die Grenzen der Farm überschrit-ten, und die Vorstellung, eine so weite Reise zu unternehmen, er-füllte sie mit Schrecken.
Nekapoto setzte sich mühsam auf und wischte sich mit dem Handrücken das Gesicht ab. »Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll. Wir werden die Farm verlieren.«
Manekato fiel die Kinnlade herunter. Eine Farm wechselte nur dann den Besitzer, wenn eine Abstammungslinie ausstarb oder wenn ein Mitglied einer Abstammungslinie ein schweres Verbrechen ver-
übt hatte.
»Ich verstehe nicht.«
»Natürlich nicht. Ach, liebe, liebe Mane! Es sind die Astrologen.
Sie haben Neuigkeiten für uns, die – mir dreht sich alles im Kopf, wie die verdammten Sterne der Astrologen sich um die Welt drehen.
Die Farm wird zerstört werden. Die Welt wird von einer großen Katastrophe heimgesucht werden – so sagen die Astrologen.«
Manekato verstand das nicht. »Stürme kann man abwenden, Wellen zähmen …«
»Du musst den Astrologen glauben«, flüsterte Nekatopo eindringlich. »Es tut mir leid, Manekato. Du musst auf den Markt gehen und mit ihnen sprechen.«
Manekato zog sich ebenso verängstigt wie verärgert von ihrer bettlägerigen Mutter zurück. »Wieso? Falls das alles wahr ist, dann hat Reden auch keinen Sinn mehr.«
»Geh zu ihnen«, sagte Nekatopo seufzend und sank in die Arme der halb-empfindungsfähigen Äste zurück.
Manekato ging zur Tür. Dann hielt sie inne, hin und her gerissen zwischen Schock, Ungewissheit, Scham und Zweifel. »Nekatopo, was wird aus mir, wenn die Farm untergeht?«
Nekatopo lag als dunkelbraunes Bündel im Bett und atmete flach. Sie antwortete nicht – aber Manekato wusste auch so, dass es 230
nur eine Antwort gab. Wenn die Farm unterging, ging die Abstammungslinie mit ihr unter.
Verwirrung und Zorn ergriffen von ihr Besitz.
Aber sie zögerte noch immer. Sie sagte sich, welches Schicksal auch immer der Farm beschieden war, falls sie zum Markt ging, würde ihre Mutter vielleicht nicht mehr leben, wenn sie zurückkehrte.
Also sagte sie langsam ihren richtigen Namen auf. »Manekatopokanemahedo …«
Manekatos richtiger Name bestand aus fast fünftausend Silben – eine Silbe mehr als der Name ihrer Mutter, zwei mehr als der ihrer Großmutter. Eine weitere Silbe für jede Generation der Abstammungslinie bis zurück zu den Anfängen, als Angehörige einer ganz anderen Spezies, die von einer Matriarchin namens Ka und ihrer Tochter namens Poka geführt wurde, sich anschickten, die Hänge dieser erodierten Hügel urbar zu
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