Das Multiversum 3 Ursprung
über Augenhöhe.
Plötzlich verspürte sie Durst. Sie stocherte mit dem Finger im Loch und wurde mit kühler Feuchtigkeit belohnt. Sie zog den Finger heraus und leckte ihn ab. Hastig sammelte sie Blätter, zerkaute sie zu einer schwammigen Masse und stopfte sie ins Loch. Als sie die Masse wieder herauszog, war sie tropfnass, und sie sog dankbar das Wasser ein.
Plötzlich verkrampfte sich ihr der Magen. Sie ging in die Hocke und schied unter Schmerzen wässrigen Kot aus. Sie riss Streifen weichen Holzes von einem verrottenden Baumstamm ab, drückte sie zusammen und wischte sich damit die säuerlich riechenden Fä-
kalien aus dem Hintern.
Sie hörte einen entfernten Ruf, wie eine Antwort auf ihren Schrei. Es waren die Elfen-Leute.
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Sobald sie wieder dazu in der Lage war, stand sie auf und ging weiter. Sie ernährte sich von Früchten und Schösslingen, die sie unterwegs fand und entfernte sich stetig von den Geräuschen ihrer Leute.
Und dann trat sie plötzlich aus dem Wald heraus. Sie stand am Rand der offenen Savanne, die an den düsteren grünen Wald an-grenzte.
Und eine Fledermaus segelte durch den Himmel, eine große schwarzweiße Fledermaus mit blauen Flügeln.
Sie heulte auf und floh zurück in den grünen Schlund des Waldes.
Emma Stoney:
Nachdem sie sich von Feuerläufers Gruppe getrennt hatte, war Emma der winkenden Ham-Frau in den Wald gefolgt. Es war ein beschwerlicher Marsch durch immer dichteres Unterholz. Doch nach etwa einer Stunde gelangten sie zu einer kleinen Lichtung.
Es gab hier Unterkünfte aus Tierhäuten, die über in den Boden gerammte Stöcke gespannt waren. Es stank barbarisch nach Leuten, Schweiß, Holzrauch, Exkrementen, verkohlten Knochen und verbranntem Fell. Sie merkte, dass selbst die Wände der Hütten stanken – ein unangenehmer muffiger Geruch, den sie mit alten Menschen verband, die sich nur selten wuschen und nie die Wä-
sche wechselten.
Aber Gestank hin oder her, es war eine Art Dorf.
Ein Ham-Dorf.
Ein Dorf mit Neandertalern.
Im Schlepptau der Ham, die sie aufgegabelt hatte, näherte sie sich vorsichtig der Siedlung.
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Die Hams schienen kaum Notiz von ihr zu nehmen. Sie hatten nur Augen für ihre eigenen Leute. Ein paar Kinder zupften mit beängstigend kräftigen Fingern an ihrer Kleidung. Sonst gingen die Hams ihr aus dem Weg und wandten den Blick ab.
Trotz des kühlen Empfangs, den die Hams Emma bereiteten, jagten sie sie nicht davon.
Sie hob eine eigene Feuerstelle aus und baute ein Feuer.
Niemand gab ihr an diesem ersten Abend etwas zu essen. Am nächsten Tag gelang es ihr dann, mit einer selbst geknüpften Schlinge ein Kaninchen zu fangen. Sie brachte das Fleisch zum Lager zurück und grillte es, wobei sie den Erwachsenen etwas davon abgab. Sie nahmen das Fleisch und schnüffelten skeptisch an dem verbrannten Zeug, ignorierten sie aber weiterhin.
So ging das weiter.
Sie stellte bald fest, dass das Dorf viele Bewohner hatte, vielleicht achtzig oder neunzig. Sie hausten in Hütten, die mit der Kulisse des dichten grünen Walds verschmolzen.
Mit den massigen Körpern und den breiten knochigen Gesichtern sahen die Hams, die in Tierhäute gehüllt primitive Werkzeuge aus dem Stein schlugen, für Emma eher wie Mutanten aus einem alten Horrorfilm aus. Alles, was sie taten – ob sie nun Knochen zerschmetterten oder Kinder spielerisch in die Luft warfen –, wirkte viel kraftvoller als die Bewegungen der Läufer, und Emma fürchtete sich vor ihrer schieren physischen Stärke. Zumal es offensichtlich war, dass sie nicht immer mit dieser Kraft umzugehen vermochten. Emma sah viele Anzeichen von Verletzungen, Kno-chenbrüchen, Quetschungen und Narben.
Sie waren in gewisser Weise Menschen, aber Menschen, die sich das Leben bei allem, was sie taten, möglichst schwer machten. So bestand zum Beispiel ihre bevorzugte Jagdtechnik – selbst bei großen Beutetieren – darin, sie niederzuringen und zu Boden zu 248
werfen. Emma hatte das Gefühl, mit einer Truppe Rodeoreiter zu-sammenzuleben.
Aber sie kümmerten sich um ihre Kinder und die Alten und Kranken.
Und sie sprachen Englisch, wie Feuers Leute, die Läufer. Wer mochte ihnen das wohl beigebracht haben? Dieses zentrale Mysterium nagte an ihr – und sie hatte das Gefühl, dass ihr Schicksal von der Lösung dieses Rätsels abhing.
Im Wald und in der Savanne wimmelte es von Räubern: Katzen, Bären, Hunden, nicht zu reden von den Schlangen und Insekten, von denen manche riesig waren und die ihr großes
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