Das Musical
er ihn durch das gegenwärtig funktionsfähige linke Nasenloch in einer türkisfarbenen Wolke entließ.
Rex drehte das Päckchen zwischen den Fingern. Das Gesicht des Dalai Lama grinste ihn an über dem Motto: »Du bist nie allein mit einer Karma Cool«. Rex nahm die beiden letzten Zigaretten heraus, bevor er die Packung zerknüllte. Er war alles andere als ein glücklicher Mann.
Irgend etwas nagte an ihm, und es war nicht einfach Hunger oder der sinnlose Mord an seiner Tante. Es war auch nicht die Kaltblütigkeit des Dalai oder die Verachtung seiner Schwester.
Es war viel mehr. Er steckte bis zum Hals in einer Sache, doch er hatte nicht die geringste Ahnung, was für eine Sache das war. Vielleicht lag es daran. Die Hilflosigkeit. Das Fehlen jeglicher Kontrolle. Rex mühte sich, es in Worte zu fassen, doch sein eingeschränktes Vokabular machte es unmöglich. H. G. Wells hat einmal gesagt, daß jedes Wort, das ein Mann nicht kennt, einer Idee entspricht, die er nicht begreift. Die Tatsache, daß Rex der lebende Beweis dieser Hypothese eines großen Mannes war, hätte zweifelsohne keinem von beiden den geringsten Trost geboten.
Rex rauchte. Er zog an seiner Zigarette, kippte seinen zweiten Dreifachen hinunter, erhob sich düster und kehrte zur Theke zurück, um seinen Becher nachfüllen zu lassen.
Der einäugige Barmann drückte an seinen Pickeln herum. Rex klapperte mit dem Becher auf dem Tresen.
»Bedienung«, sagte er.
Der Barkeeper untersuchte einen eitrigen Mitesser auf der Fingerspitze.
»Noch einen?« fragte er. »Sie sind ein unglaublicher Säufer, wissen Sie das?«
»Ich muß wieder auf den Schirm sehen, oder?«
Der Barmann hielt eine geöffnete Flasche über Rex’ leeren Becher. »Meldet sich da vielleicht das schlechte Gewissen?«
»Lecken Sie mich am Arsch«, entgegnete Rex.
»Ein redegewandter Bursche«, konterte der Barmann. »Ein Mann der Tat.«
Rex starrte den Barmann an. Die Geschichte lehrt, daß viele, wenn sie um Worte verlegen sind, den Einsatz von Gewalt bevorzugen, um ihre Meinung durchzusetzen. Diese Weisheit war dem Profi hinter dem Tresen nicht unbekannt, und so trat er einen vorsichtigen Schritt zurück. »Das würden Sie jetzt wohl gerne, wie?«
Rex schüttelte den Kopf. »Nein. Sie können schließlich nichts dafür. Sie sind einfach nur hier, das ist alles.« Er nahm seinen Becher an sich. »Trinken Sie einen mit. Auf meine Rechnung.«
Der Barmann grinste und dekantierte eine große Portion des dämonischen Bräus in ein unnatürlich sauberes Glas. »Was bedrückt Sie denn so?«
Rex schüttelte den Kopf. »Ich wünschte nur, ich wüßte es selbst.«
»Heutzutage haben die Leute nicht mehr viel Zeit, um über sich selbst nachzudenken, wie? Sehen Sie sich nur um…« Er deutete mit dem Glas in der Hand auf seine Gäste. Dort saßen sie, wie Puppen, die jemand am Tresen aufgereiht hatte. Becher in den Händen, die Gesichter auf die Bildschirme gerichtet, um Kredits zu verdienen. »Niemand denkt mehr eigene Gedanken. Meinungsfreiheit ist gleichbedeutend mit Häresie. Zweifel ist Subversion. Subversion führt zu Anarchie, Anarchie ist Häresie. Und schon schließt sich der Kreis. Wie ein unheiliges Mandala. Ich würde nicht zuviel nachdenken, wenn ich Sie wäre.«
»Wenn Sie ich wären?«
»Ein Firmenwagen. Eine Wohnung an der Oberfläche, jede Wette. Jede Menge Kredits bei MUTTER. Sie sind ein Wunderknabe. Sie sind dick im Geschäft.«
»Und Sie meinen also, ich sollte Dankeschön sagen?«
»So funktioniert nun einmal das System. Sie sind ein Teil davon. Was erwarten Sie denn? Was wünschen Sie sonst noch?«
»Integrität vielleicht?«
Der Barmann brach in schallendes Gelächter aus. »Entschuldigen Sie«, sagte er, als er sich ein wenig beruhigt und die Tränen vom Gesicht gewischt hatte. »Es ist lange her, daß ich dieses Wort gehört habe. Sind Sie sicher, daß Sie wissen, was es bedeutet?«
»Und was ist mit Ihnen? Sie betreiben dieses Rattenloch. Sie stehen wohl über allem, wie?«
»O nein, mein Freund.« Der Barmann schüttelte heftig den Kopf, und sein Glasauge drehte die künstliche Pupille in den Kopf. »Ich bin genau wie Sie, Mann. Ein Opfer. Wir alle sind nichts weiter als Opfer. Es gibt die anderen, und es gibt uns. Wir werden niemals zu ihnen gehören, ganz gleich, was wir tun. Wir sind wir. Sie sind einer von uns. Ein Opfer, eine Unperson, eine Speiche im großen Rad, eine Nummer auf dem Schirm. Der einzige Unterschied zwischen Ihnen und mir besteht
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