Das muss Liebe sein
lassen, dass er tatsächlich ernsthaft darüber nachdachte. Wenn sie das wüssten, würden sie über ihn herfallen wie Elstern über einen Tierkadaver auf der Straße.
»Ich kenne eine richtig nette Frau, die …«
»Nein«, fiel Joe ihr ins Wort, nicht bereit, eine der Freundinnen seiner Schwester auch nur in Betracht zu ziehen. Er konnte sich zu gut vorstellen, wie jedes kleinste Detail seines Privatlebens dann seiner Familie zugetragen würde. Er war fünfunddreißig, doch seine Schwestern behandelten ihn immer noch wie einen Fünfjährigen. Als könnte er seinen eigenen Hintern nicht finden, wenn sie ihm nicht sagten, dass er am Ende seiner Wirbelsäule begann.
»Warum nicht?«
»Ich mag keine netten Frauen.«
»Genau das ist ja dein Problem. Dich interessiert die Busengröße viel mehr als der Charakter.«
»Ich habe kein Problem. Und auf die Busengröße kommt es nicht an. Die Form ist viel wichtiger.«
Tanya schnaufte durch die Nase, und er konnte sich nicht entsinnen, von einer Frau schon einmal ein solches Geräusch vernommen zu haben.
»Wie bitte?«, fragte er.
»Du wirst einmal ein sehr einsamer alter Mann sein.«
»Sam kann mir Gesellschaft leisten, und er wird mich wahrscheinlich überleben.«
»Ein Vogel zählt nicht, Joey. Hast du im Moment eigentlich eine Freundin? Ein Mädchen, das du vielleicht einmal deiner Familie vorstellen möchtest? Das du eventuell sogar heiraten würdest?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Ich habe die richtige Frau noch nicht gefunden.«
»Wenn Männer auf dem Sterbebett noch Frauen zum Heiraten finden, kann es doch eigentlich nicht so schwer sein.«
4. KAPITEL
Der kleine historische Bezirk Hyde Park schmiegt sich an den Fuß des Boise-Vorgebirges. In den Siebzigern war die Gegend durch die Abwanderung der Einwohner in die Vorstädte und die Beliebtheit von Einkaufszentren etwas heruntergekommen. Doch in den vergangenen Jahren haben die Geschäfte ein Lifting und einen frischen Anstrich bekommen, und nun profitieren sie von der Rückkehr des Lebens in die Stadt.
Hyde Park umfasst drei Gebäudekomplexe und liegt inmitten eines der ältesten Wohngebiete der Stadt. Die Bewohner selbst bilden eine bunte Mischung aus Boheme und Wohlstand. Reich, arm, jung und auch alt und bucklig wie die rissigen Gehsteige. Ums Überleben kämpfende Künstler und erfolgreiche Yuppies leben Seite an Seite. Abgewirtschaftete violette Häuser mit orangefarbenen Markisen vor den Fenstern stehen neben restaurierten viktorianischen Gebäuden, komplett mit pockennarbigem Kutschenblock am Kantstein.
Die Geschäfte sind genauso zusammengewürfelt wie die Bewohner. Die Schusterei gibt es in der Gegend schon länger, als irgendjemand denken kann, und eine Straße weiter kann man noch einen Herrenschnitt für sieben Dollar bekommen. Man bekommt Tacos, Pizza, Espresso oder essbare Unterwäsche aus der Wäscheboutique Naughty or Nice. Man kann vor dem 7-11 parken und nach dem Volltanken des Wagens was zu trinken und den National Enquirer kaufen oder aber einen halben Block weitergehen und Bücher, Fahrräder oder Schneeschuhe erstehen. In Hyde Park gibt es alles. Gabrielle Breedlove und ihr Laden Anomaly passten perfekt hierher.
Die Morgensonne ergoss sich über den Stadtteil, durch die Schaufenster von Anomaly und erfüllte den Raum mit Licht. Die großen Fenster waren voll gestellt mit orientalischen Porzellantellern und Waschschüsseln. Ein halbmetergroßer Goldfisch warf mit seiner Schwanzflosse wirre Schatten auf den Berberteppich.
Gabrielle stand in ihrem abgedunkelten Laden und gab ein paar Tropfen Patchouli in eine zierliche Kobalt-Duftlampe. Seit über einem Jahr schon experimentierte sie mit verschiedenen ätherischen Ölen. Der Prozess bestand aus einem unaufhörlichen Zyklus von Versuchen, Misslingen und erneutem Versuchen.
Wenn sie die chemischen Eigenschaften studierte, die Öle in den kleinen Flaschen unter Zuhilfenahme von Bunsenbrenner und Mörser mischte, fühlte sie sich immer ein wenig wie eine verrückte Wissenschaftlerin. Die Schöpfung wundervoller Düfte befriedigte ihren künstlerischen Schaffensdrang. Sie glaubte fest, dass gewisse Aromen über Heilkräfte für Körper, Geist und Seele verfügten, sei es dank ihrer chemischen Eigenschaften oder durch das Freisetzen warmer, angenehmer Erinnerungen, die der Seele wohl tun. Erst letzte Woche hatte sie mit Erfolg die Kreation ihrer eigenen, einzigartigen Mischung abgeschlossen. Sie hatte sie in wunderhübsche rosefarbene
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