Das Muster der Liebe (German Edition)
Carol die Straße entlang. Ein Videoladen und ein altes Apartmentgebäude bildeten das Ende des Blocks. Gegenüber entdeckte sie ein Bistro,
Annies Café
. Der Unterschied zwischen den bereits modernisierten Abschnitten der Straße und den alten Gebäuden war erstaunlich. Der ursprüngliche Teil erinnerte an eine malerische kleine Stadt mit freundlichen Händlern. So wie man sie aus Fernsehserien der 60er-Jahre kannte. Sicher, einige der Gebäude waren heruntergekommen, doch trotzdem wirkten sie einladend. Es war kaum zu glauben, dass die Blossom Street weniger als eine Meile vom Stadtzentrum Seattles mit seinen Hochhäusern und den überfüllten Straßen entfernt war.
Neben dem Blumenladen entdeckte Carol eine weitere Überraschung: einen Wollladen. Das Geschäft war neu. Ein Schild kündete von der “großen Eröffnung”. Eine Frau – sie schien in Carols Alter zu sein – saß in einem Schaukelstuhl und strickte. Ein Knäuel limonengrünes Garn lag in ihrem Schoß.
Weil sie nichts Besseres zu tun hatte, stieß Carol die Tür auf und betrat das Geschäft. Ein hübsches Glöckchen ertönte. “Hallo”, sagte sie und bemühte sich, fröhlich und neugierig zu klingen. Sie war sich nicht sicher, was sie dazu bewogen hatte, den Laden überhaupt zu betreten. Zumal sie nicht stricken konnte und an Kunsthandwerk noch nie sonderlich interessiert gewesen war.
Die zierliche Frau begrüßte sie mit einem schüchternen Lächeln. “Hallo und willkommen im
A Good Yarn
.”
“Sie sind neu hier, habe ich recht?”
Die Besitzerin nickte. “Gestern war die Eröffnung, und Sie sind heute Nachmittag meine erste Kundin.” Sie lachte leise. “Eigentlich überhaupt die erste Kundin heute”, gab sie zu.
“Was stricken Sie da?”, fragte Carol und fühlte sich seltsam beschämt, weil sie im Grunde genommen keine wirkliche Kundin war.
“Einen Pullover für meine Nichte.” Sie griff nach ihrem Strickzeug und hielt es Carol entgegen.
Die Farben – Limonengrün, Orange und Türkis – zauberten ein Lächeln auf Carols Gesicht. “Das gefällt mir.”
“Stricken Sie?”
Die Frage musste kommen. “Nein, aber ich würde es irgendwann gern einmal lernen.”
“Dann sind Sie bei mir genau richtig. Am nächsten Freitag beginnt ein Anfängerkurs. Wenn Sie sich dafür einschreiben, erhalten Sie einen Nachlass von zwanzig Prozent auf die Wolle.”
“Es tut mir leid, aber ich fürchte, ich bin völlig unbegabt fürs Stricken.” Carol spürte ehrliches Bedauern. Doch sie war nun einmal nicht der Mensch, der gern etwas mit seinen eigenen Händen herstellte. Zinseszinsen oder Jahreszinsen, Einlagen und Anlagefonds berechnen – dort lagen ihre Fähigkeiten und ihr Talent.
“Sie werden es nie wissen, wenn Sie es nicht ausprobieren. Ich bin übrigens Lydia.”
“Carol.” Sie reichte ihr die Hand. Lydia legte ihr Strickzeug beiseite, um Carols Händedruck zu erwidern. Die junge Frau war klein und zierlich, ihr dunkles Haar trug sie kurz. Ihre klugen braunen Augen funkelten vergnügt, und Carol mochte sie auf Anhieb.
“Im Anfängerkurs beginne ich mit einem einfachen Projekt”, erklärte Lydia.
“Es müsste aber wirklich sehr leicht sein, wenn ich mit dem Stricken anfangen sollte.”
“Ich habe mir überlegt, dass jeder der Schüler eine Babydecke stricken sollte.”
Carol erstarrte, und Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie senkte den Kopf, bevor Lydia es bemerkte. Normalerweise war sie kein Mensch, der besonders empfindlich war. Aber durch den Aufruhr ihrer Hormone schienen ihre Emotionen hin und wieder außer Kontrolle zu geraten. Die ganze Situation war so seltsam, und doch schien es Schicksal zu sein.
“Vielleicht werde ich mich doch für den Kurs anmelden”, sagte sie und strich über ein Knäuel hellgelber Wolle.
“Das wäre wundervoll.” Lydia ging zum Tresen hinüber und kehrte mit einem Klemmbrett zurück.
Im Augenblick suchte Carol überall nach Zeichen und Omen. Oft hielt sie Zwiesprache mit Gott. Ohne den geringsten Zweifel glaubte sie, dass sie zu diesem Lädchen geführt worden war. Es war Sein Weg, ihr zu zeigen, dass Er ihre Wünsche und Gebete bald erhören würde. Wenn sie sich diesem dritten und letzten IVF-Zyklus unterzog, würde es klappen. In naher Zukunft würde sie die Babydecke für ihr eigenes Kind benötigen.
4. KAPITEL
A lix Townsend
Mit dem Absatz ihres kniehohen schwarzen Stiefels zertrat Alix Townsend den Zigarettenstummel, den sie soeben auf den rissigen Bürgersteig aus Beton
Weitere Kostenlose Bücher