Das Musterbuch (German Edition)
'Heiligen Chrysogonus zu Pferd' in San Trovaso? Ist dieser etwa nicht antikisch und modern zugleich?" Bartolommeo freute sich, auch einmal das Wort zu ergreifen und gegen seinen jungen Gegner in Sachen Kunst antreten zu können.
"Lieber Bartolommeo, du warst doch in der Werkstatt Andrea Mantegnas in Padua! Hast nicht du den Unterschied zwischen gotisch-dekorativen Verrenkungen im Sinne Jacobello del Fiores und dem ernsten Anliegen wirklicher Bewegungsstudien begriffen?" Alle dachten hierbei wohl unwillkürlich an Jacobellos berühmten Lucia-Tafeln, die nach Fermo kamen und dort in ihrer künstlichen Inszenierung die Maler zum Lachen brachten.
Niemand mochte mehr das Argument 'Tommaso da Modena' anführen, der mit seiner Petrarca-Madonna doch explizit eine Lobeshymne auf die Poesie anstrebte; nur zu gut hatten sie die leblose, langgliedrige und unrealistische Madonna vor Augen.
Giovanni war erhitzt und goss sich einen Becher mit Wasser und Wein ein. Der Meister Antonio hatte während der langen Rede Giovannis schweigsam dagesessen und konzentriert zugehört. Etwas in der Aussage der jungen Venezianers irritierte ihn - war es sein indirekter Vorwurf der ständigen Reproduktion traditioneller Kunst an die Altehrwürdigsten ihres Faches? Antonio sah zu seinen Werkstattgefährten Quirizio und Andrea da Murano hinüber. Stille Übereinkunft durch ihren Blick sagte ihm, besser zu schweigen, als dem enthusiastischen Bellini-Sohn die Leviten zu lesen, denn wie würde Vater Jacopo auf Kritik an seinem Sohn reagieren?
Und um nicht das Klima an diesem Abend gänzlich zu verderben, übernahm der junge Bartolomeo noch einmal das Wort und führte das Gespräch zurück zur Antikenrezeption, das in Padua bei Donatello und Mantegna als grundlegenden stimolo in der Kunst erkannte. "Wer von euch war denn schon einmal an der dalmatischen Küste? Kennt ihr überhaupt den Ursprung der neuen Kunstidole?" Nein, die wenigsten von ihnen hatten je eine Reise nach Griechenland angetreten und so beschlossen sie am Ende ihres Kunstgesprächs, das nächste Mal über die griechische Antike zu sprechen...
Als alle gegangen waren und die jungen garzoni der Werkstatt Antonios schon dabei waren, ihr Schlaflager aufzubauen sagte der Maestro: "Giovanni, du kannst heute in meinem Hause nächtigen. Es ist spät geworden und du wirst jetzt keine Barke mehr nach Venedig finden. Die anderen Venezianer haben sich - soweit ich weiss - bei Freunden einquartiert. Morgen früh werde ich dir die Pigmente für Deinen Vater bereitstellen."
Giovanni nahm dankend den Vorschlag an und stammelte verlegen eine Art Entschuldigung für seine hitzige Einmischung ins Kunstgespräch. "Lass gut sein, Giovanni, es hängt doch auch ein Funken Wahrheit an dem, was du sagtest. Nur akzeptieren wollen wir Alten es nicht."
Mit einem ' buona notte ' verabschiedete sich der Meister und überliess seinem Bruder Bartolommeo die Aufgabe, den Bellini-Sohn ein Nachtlager zu weisen. Bartolommeo war überaus glücklich, seit seiner Ausbildung bei Andrea Mantegna in Padua von seinem grossen Bruder als richtiger Künstler angesehen zu werden. Er traute ihm nicht nur die Ausführung grosser Teile seiner Tafeln zu, sondern überliess ihm auch zeitweilig die Führung seiner bottega . Antonio war merklich älter geworden. Da huschte plötzlich einer der garzoni von der bottega in das Haus des Maestro: "Was will der denn hier, schläft der etwa im Haus des Meister?" Giovanni war überrascht, kannte aber manche Vorlieben der Älteren für ihre jungen Mithelfer. "Das ist doch Alvise, der Sohn meines Bruders" entgegnete Bartolommeo. Giovanni wusste gar nicht, dass Antonio einen so hübschen Sohn hatte. Alvise war erst neunjährig.
***
Den ganzen Heimweg über auf der Barke sitzend hatte Giovanni nur einen einzigen Gedanken, Elena, Elena...Schon während der vergangenen Nacht musste er immer wieder, aus dem Schlaf gerissen, an sein Modell denken. Giovanni holte seinen Skizzenblock aus der Brusttasche und betrachtete das süsse Gesicht, den zum Kuss geformten Mund, die mandelförmigen Augen, ...ja dies wäre eine Madonna!
Da fiel ihm ein, dass er für heute Nachmittag seinem Modell ein Geschenk versprochen hatte und er zeichnete eine Blume, zaghaft, zerbrechlich und so tief symbolisch! Allerdings waren seine Gefühle ihr gegenüber so scheu, dass er es nur wagte, diese Iris ganz an den oberen linken Rand des Papiers zu setzen, in Erinnerung an verschiedene Blätter botanischer Studien seines
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