Das Musterbuch (German Edition)
Glückwunsch! Mein Geschenk an Sie, werte Dame, werde ich nachreichen!" "Dann will ich mich gern im Voraus bedanken", ein leichtes Berühren ihrer Lippen auf den seinen, ein Windstoss von der noch offen stehenden Tür und ein Poltern beim überstürzten Herabsteigen der Treppen im Flur liess es ihn erst gewahr werden: sie hatte ihn geküsst!
***
Giovanni, der es im engen Atelier nicht mehr aushalten konnte, machte sich unmittelbar auf den Weg nach Murano, hatte der Vater ihm doch aufgetragen, Pigmente aus dem Atelier Vivarini abzuholen. An Zanipolo vorbei hüpfte er zur Fondamenta Nuove. Hier würde mich schon eine barchetta zur Insel mitnehmen.
Das Meer war leicht bewegt und die Sonnenstrahlen der bereits untergehenden Sonne liessen San Michele in rosarotem, dunstigem Licht erscheinen. Hier würde er vielleicht eines Tages mit seiner Familie ruhen, im Familiengrab, wohl zusammen mit seiner Frau? Giovanni war ein Träumer und er musste sich immer alles ausmalen. Aber heute hatte er sein Skizzenbuch ganz nahe an seiner Brust und wollte es nicht von dieser lösen. Zu schön war ihm das junge Gesicht seiner Angebeteten gelungen.
Die Silhouette von Murano hob sich deutlich vom Horizont ab. Angekommen auf der Insel, wusste er sich noch ganz genau an das Atelier Antonio Vivarinis in der Nähe des Palazzo da Mula zu erinnern.
Giovanni erkannte den schon alternden Antonio inmitten einer Schar Männer in seinem Atelier auf einem Holzpflock kauernd, das eine Bein angewinkelt auf das andere geschlagen und den Kopf von einer Hand gestützt. Auf einmal sah er Giovanni: "Tritt näher, junger Freund, und setze dich zu uns. Wir diskutieren gerade die Poeme unseres grossen Francesco Petrarca und analysieren hieraus sein Kunstverständnis." Giovanni war bekannt, dass Antonio eine Art Kunstgesprächskreis iniziiert hatte, wunderte sich gleichwohl über das grosse Interesse der Teilnehmer, deren Gesichter er zum Teil auch aus Venedig kannte.
"Ich will nicht stören, sondern nur Wünsche von meinem Herrn Vater übermitteln...".“Ich weiss“, unterbrach ihn Antonio, „dein Vater will seine Pigmente abholen lassen, aber geselle dich doch erst einmal zu uns und stärke dich!"
Die Hausgehilfin hatte währenddessen eine grosse Platte mit geräuchertem Schinken der terra ferma gebracht, eine Delikatesse, die sie mit dem frischen Brot und getrockneten Weinbeeren genossen. Der Becher Wein und die Pinienkerne rundeten das Mahl ab.
Giovanni verfolgte die These der Antikenrezeption im Werke Petrarcas, auf die nicht einmal Leon Battista Alberti in seinem grossartigen Werk 'De Pictura' eingegangen war. War der erste Theoretiker der Kunst auch nur ein Eklektizist? Sind nicht seine Erkenntnisse über eine Bezugnahme auf die Antike in der Malerei federführend gewesen? Wer war zuerst da die Henne oder das Ei?
Diese und viele andere Wortbeiträge schafften eine Stimmung philosophischen Diskurses und gleichzeitig lustiger Geselligkeit. Giovanni nahm allen Mut zusammen und begann sein Plädoyer für die Erneuerung - renovatio - der Kunst mit folgenden Gedanken:
"Ihr sprecht hier über Kunst und Poesie, wer von euch spricht aber von der flämischen Poesie in der Kunst? Ist es nicht endlich einmal an der Zeit, sich vom Erbe eine del Fiore oder da Castagnos zu lösen und die Bildwelt menschlicher zu gestalten? Noch immer tritt das französische Vorbild in euren Tafeln auf, noch immer schaut ihr auf die griechische Ikone, wer aber von euch schafft neue Lösungen? Wir müssen doch nur die Augen öffnen, die hermetischen Texte, die neuerdings in Florenz von Ficino übersetzt werden, zu Kenntnis nehmen. Perspektive heisst die ‚Zauberformel’ der neuen Kunst!" Antonio dachte hierbei an seine drei Werke aus San Zaccaria, geschaffen zusammen mit seinem lieben Freund Giovanni d'Alemagna, der ihn nun schon seit über vier Jahren verlassen hatte, und ihre gemeinsame 'Marienkrönung' in San Pantalon, ein Werk ohne perspektivische Konstruktionen.
"Und dann euer Diskurs über die Antike: wer von euch hat denn schon einmal all'antica gemalt? Wer hat sich die Kunstwerke eines Donatellos in Padua eingehend betrachtet und aus seinem Antikenstudium gelernt? Was ist das Gattamelata-Reiterstandbild anderes als eine Interpretation unserer San Marco-Quadriga? Und wohin schaut ihr? In die Vergangenheit, hin zu den Alten Meistern, die noch immer unser Bild von der venezianischen Malerei prägen."
"Und was ist mit unserem grossen Michele Giambono und seinem
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