Das Musterbuch (German Edition)
Geschwätz unzähliger Gäste. Viele seiner Malerkollegen und Freunde waren heute Abend jedoch nicht zugegen, so dass Giovanni es vorzog, nach dem Vater zu schauen und ihm gleich vom Gespräch mit dem Dogen zu berichten.
Es war erst gegen elf Uhr und es brannte noch Licht im Atelier. Der Vater sass stumm über seinem Pult gebeugt und starrte auf eine der vielen vor ihm ausgebreitete Handzeichnungen: Skizzen von Tieren, Pferde, Katzen, Hunde, Affen, Löwen Igel, Jagdszenen und andere Ereignisse des Lebens, Bauern, Schmiede, Ritterspiele. Aber auch unzählige Brückenskizzen, Architektur-und Gewandstudien und Kopien antiker Münzen und Inschriften lagen dort ausgebreitet. Giovanni schien es, als habe der Vater Tränen in den Augen, so sehr glänzten diese. Als er den Sohn näher treten sah, sagte er: "Nimm Platz, Giambellino, dich hat wohl der Himmel geschickt!"
"Vater, was bedrückt dich?" Giovanni setzte sich zu ihm. "Dies ist eine lange Geschichte. Sie fing vor vielen Jahren an, genauer, als ich noch ein junger Mann in der Lehre bei Gentile da Fabriano in Florenz war, und mit ihm zusammen nach Rom ging. Dort fing alles an, mein Junge, und dort begann unsere gemeinsame Geschichte!" Giovanni konnte nicht begreifen, was der Vater mit 'unsere gemeinsame Geschichte' meinte. Dann aber begann er zu erzählen.
"Damals, als Gentile nach Venedig kam, wurde er auf mich aufmerksam und nahm mich in seine Werkstatt auf. Ich bin im Jahre 1422 zu ihm nach Florenz gegangen. In Florenz kam ich mit den grössten Künstlern der Stadt in Kontakt. Mit Lippi, Donatello, Paolo Uccello und Andrea da Castagna.
Ich war etwa in deinem Alter, da hatte ich die Lehre bei Gentile in Florenz abgeschlossen und war ihm bei verschiedenen Aufträgen behilflich, und so nahm er mich mit nach Rom, um die Laterans-Basilika auszumalen. Du musst Dir vorstellen, dass das Rom zu Beginn des Jahrhunderts noch anders aussah als heute! Da gab es nicht einen Papst, sondern gleich drei an der Zahl. Im Konzil zu Konstanz wurden zwei der Päpste abgesetzt, der dritte musste zurücktreten, Papst Martin V., Odone Colonna. Zu dieser Zeit war ich also in Rom, eine alles andere als gemütliche Stadt. In der Laterans-Basilika durfte ich Freskieren, Heiligenbilder und einen Marienzyklus, an der Seite des Meisters aus Florenz. Aber die Stadt hielt noch andere Herausforderungen für mich bereit." Hier lernte ich ...", stockte Jacopo, ehe er fortsetzte. "...sie hiess Camilla und war - schön wie ein Engel. Ich lud sie ein, sich die Fresken in der Basilika anzuschauen, da hatte ich mich bereits in sie verliebt und sie in mich. Diese Wochen in Rom waren - so liess es Gott geschehen - die schönsten in meinem Leben - bis Camilla mir eines Tages offenbarte, dass sie einem anderen Mann versprochen war. Da sie aus reichem Hause stammte, musste unsere Liebe geheim bleiben, aber sie gebar mir ein Kind, doch - sie starb bei der Geburt - Giovanni - bei deiner Geburt, denn sie war deine Mutter ." Giovanni erfasste leichter Schwindel, "aber...", „lass mich zu Ende erzählen, als das Kind, von dem der Ehegatte wusste, dass es nicht seines sein konnte, einer armen Amme überlassen wurde, nahm ich diese und den Säugling mit mir nach Hause. In Venedig würde niemand merken, dass ich Vater dieses Kindes war. Ich beschloss, das Kind bei ihr aufwachsen zu lassen, reiste derweil nach Brügge - zu den van Eycks - und als ich wieder kam, stand ein prachtvoller Bursche von zwei Jahren vor mir, das warst du! Als ich Anna zur Frau nahm, trafen wir die Abmachung, dich als zweiten Sohn auszugeben, wegen der Erbschaft und Geschwisterfolge. Gentile, der bald danach das Licht der Welt erblickte, war ohnehin ein kräftiger Kerl, der dich im Wachstum leicht einholte. So ist der Unterschied zwischen euch bis heute nicht aufgefallen. Du aber hast - wie deine Mutter - den hellen Teint, die zarte Statur und vor allem den poetischen Geist. Mein lieber Sohn, ich muss dir dies alles gestehen, denn ich ahne, dass ich nicht mehr viel Zeit habe....Anna und Gentile haben sich bereits verbündet und sie hoffen, eines Tages die Erbschaft meiner Kunst anzutreten. Deshalb überlasse ich dir, mein liebster Sohn, mein eigentliches Vermächtnis: hier, nimm diese Skizzen, die ich ausgebreitet habe, und betrachte sie als dein Eigentum. Nur dir stehen sie zu, denn sie entstanden in einer Zeit grösster Liebe, es sind Zeichnungen nach deiner Mutter und viele andere Dinge....." Jetzt erblickte Giovanni die Aktstudien, nude , die
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