Das Musterbuch (German Edition)
Inspirationsquelle von innen heraus, seine Elena.
Im Jahre 1468 starb in Padua Francesco Squarcione, der Lehrer Mantegnas, Zoppos, Crivellis und Gregorio Schiavones, ohne dass man grossen Anteil hieran in Venedig nahm.
Aber das Thema Sterben war ins Zentrum der Malerei Giovannis gerückt. Und er malte in dieser Zeit sein schönstes und zugleich traurigstes Werk: eine Pietà!
Wie sehr hatte sich hierin der Typus Pietà, wie er noch durch Donatello mit seinem Bronze-Relief am Hochaltar in Padua geprägt worden war, gewandelt. Keine Engel mehr assistierten dem Toten Leichnam in einer Art Ikonen-Form, nein, hierin offenbarte sich das Drama der Passionsgeschichte, fokussiert auf den intimen Moment des Abschieds!
Bei seiner Entwicklung spielten Rhetorik und Poesie eine grosse Rolle, so wie es von Leon Battista Alberti für die Malerei gefordert wurde: das Bild sollte erzählen können wie die Dichtung. Der Mund des Johannes war leicht geöffnet, Gestik und Mimik setzte Giovanni gezielt ein.
Varietà, invenzione, movimenti und sentimenti - also Vielfalt, Erfindung, Bewegung und Emotion, das waren die Kernbegriffe Albertis, die Giovanni bei der Gestaltung vor Augen hatte. Die dargestellten Körper sollten Ausdruck des Seelischen sein.
Nur eine Inschrift für den cartellino auf der Mauerbrüstung wollte ihm nicht einfallen. Er nahm sich vor, seine neuen Freunde, die er im Musik-Unterricht kennengelernt hatte, zu befragen. Unter ihnen waren Dichter und Humanisten, so ein Freund der Familie, Raffaele Zovenzoni.
***
Es geschah ganz unvermittelt, ohne dass der Rest der Familie Anzeichen erkannte oder die Möglichkeit hatte, Abschied zu nehmen. Eines Morgens lag der alte Jacopo tot in seinem Atelier. Er war einfach nicht wieder aufgewacht. Anna starrte verzweifelt auf den toten Körper, der auf der Pritsche aufgebahrt war. So hätte er es sich wohl immer gewünscht - inmitten seiner Kunst zu sterben! Es kam häufig vor, dass Jacopo die Nacht im Atelier verbrachte, aber niemals wechselte er zum Schlafen das Hemd. Ob er wohl eine Ahnung hatte?
Gentile stand tröstend bei seiner Mutter, als Giovanni das Atelier betrat. Er hatte Tränen in den Augen, so dass er nur verschwommen die anderen Personen, Familienmitglieder, Freunde und den Priester gewahr. Er näherte sich dem toten Vater, ergriff seine Hand und weinte bitterlich.
Erst als sie gemeinsam am Tisch sassen, gingen ihm Gedanken durch den Kopf, die er bislang verdrängt hatte. Wie würde er, der illegitime Sohn, die Erbschaft seines Vaters antreten könne? Hatten seine drei Geschwister nicht mehr Rechte als er? Nun erinnerte er sich an die Situation, als sein Vater ihm die Mappe mit Zeichnungen vermacht hatte. Er also hatte einen Teil vom Musterbuch seines Vaters geerbt. Unwiderruflich! Und niemand ausser ihm wusste davon.
Kapitel XXIII
Er konnte kaum laufen, doch als der kleine Bub sich ihm näherte, musste Giovanni schmunzeln und legte seine Farbstifte ab, um ihn aufzufangen, falls er hinfiele. Giovanni, der sich auf den Stufen des Brunnens eingerichtet hatte - wie damals, einige Jahre zuvor! - fragte sich, welche Mutter so ein Kind ganz allein auf einer so grossen piazza spielen lassen würde? Der Knabe konnte doch höchstens zweijährig sein.
Aus dem Portal der Geremia-Kirche trat währenddessen eine Frau, eine schöne Frau, begleitet von einem Pfaffen, es war....Elena! Sie war also zurückgekommen. Sie steuerte auf den Brunnen zu und rief: "Giovannino, hast du mit dem zio gespielt?" Bewusst hatte sie also ihren Sohn mit ihm konfrontiert - das konnte nur heissen - dies war sein Sohn! Giovanni wurde schwindelig, vor Glück und Aufregung zugleich.
"Elena, du hast mir gar nicht melden lassen, dass ihr zurück seid. Und dann noch mit diesem prachtvollen Kind! Wie heisst er?" "Giovanni Battista!" Nun ergriff er den Kleinen wie im Taumel und wirbelte ihn durch die Luft. Das Kind quietschte vor Freude. Elena und Giovanni schauten sich an. Wie selbstverständlich liessen sie den Pfaffen, den Elena kurz zum Abschied zunickte, stehen und gingen gemeinsam in Richtung San Lio. So wie früher.
Früher, dachte Elena, stürmte ich immer diese Treppe hoch, heute warte ich geduldig, bis mein Sohn - unser Sohn - die Stufen hochkrabbelt. Giovanni öffnete die Tür und sie traten ein. Während sie ihren müden Jungen auf den letto legten begann Giovanni mit leisen Worten ein Gespräch über seine Gefühle und der Geschehnisse in der Abwesenheit von Elena.
Der Bericht
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