Das Musterbuch (German Edition)
er schon einmal irgendwo gesehen hatte, zumindest eine. Das war also seine Mutter! Eine Göttin von Frau, eine Römerin! Giovanni wurde bewusst, was dies für seine Herkunft und Zukunft bedeuten würde. Daneben lagen Skizzen von Reitern, nein, von wilden Gelagen mit Satyren und nackten Wesen. So temperamentvoll und anders als all das, was er von seinem Vater kannte. "Aber wer ist dies.." Giovanni nahm eine Zeichnung des Säuglings in die Hand. "Das ist Camilla, die Tochter deiner Schwester Nicolosia! Sie wurde mir sozusagen ein zweites Mal geboren." Giovanni war zutiefst gerührt und ebenso erleichtert. Hatte er es nicht immer schon gespürt? Diese tiefe Verbundenheit zu seinem Vater - und die innere Entfernung zu Anna? Und was für ein Schicksal - ist ihm nicht etwas ganz ähnliches passiert, mit seiner Elena? Wann wäre der Moment, seinen Vater hierin einzuweihen? Für heute war es wohl genug! Er küsste seinen Vater auf die Stirn in tiefer Dankbarkeit für diese wunderbare Offenbarung.
Kapitel XXII
Donatello ist tot! Diese traurige Botschaft machte in Künstlerkreisen in Venedig schnell die Runde! Für eine ganze Generation war damit ein Leithirte gegangen, dem sie alle nachstrebten. Jacopo Bellini hatte in Florenz und in Padua oftmals an seiner Seite gestanden, und die antiken Skizzen nach den Reliefs des Bildhauers angefertigt. 'Nun ist diese Generation - seit dem Tod Castagnos und de Fabrianos - ausgestorben und ich zähle zu den Alten', dachte Jacopo bei sich. Er setzte sich hin, und zeichnete Kreuzigungen, ähnlich derjenigen, die er vor sechs Jahren in Padua für Erasmo Gattamelata gemalt hatte, und zwar für die Sakramentskapelle der Basilika.
Diese Kreuzigungen waren hingegen vielmehr ... Kadaver, drei nebeneinander aufreiht, in einem Architektur-Ambiente, das einem Hörsaal glich; darin seitlich Personen unterschiedlicher Anteilnahme, dann ein Skelett auf einem Sarkophag und darunter der Tote, wie er zu Lebzeiten agierte, dozierend, inmitten von Studenten. Dann eine Art Seziertisch mit einem nahezu unkenntlich gezeichneten Toten, inmitten von jungen Menschen, alle waren sie nackt und warteten auf einen Reiter, der sie in die Anatomie des menschlichen Körpers und seine Proportionen einführen sollte. Lauter abstruse Ideen!
Jacopo stellte fest, dass er des Öfteren über Leben und Tod, über Sinn und Weg seines Lebens nachdachte. Vielleicht war dies ein Zeichen...?
***
Das Jahr ging schnell zu Ende. Anfang anno 1467 nahm Alberto Contarini seine hochschwangere Frau und reiste als Konsul der Serenissima nach Brügge. Für Giovanni gab es fortan nur noch eines: das Malen! Er hatte sich die Architekturzeichnungen seines Vaters zurechtgelegt und fing an, die korinthischen Kapitelle der Pilaster und Säulen nachzuzeichnen und dabei ganz eigene Kreationen zu schaffen. Kleine Delphine ersetzten die sonst typischen Akanthusblätter. Welch ein Spass!
Ein ehemaliger Schüler Donatellos stellte sich bei ihm vor: der Bildhauer Bartolomeo Bellano. Dieser lebte jetzt in Padua und wollte sich ein Bild von den Kunstwerken in Venedig verschaffen. Jacopo, als Freund Donatellos, hatte sofort einen geeigneten Kunstführer für ihn gefunden: Giovanni! Dieser führte ihn entlang der Riva dei Camerlinghi, an die Pescaria und natürlich zu San Zanipòlo, wo er zusammen mit ihm sein Polyptychon des Heiligen Vinzenz betrachtete. Bartolomeo gefielen ausserordentlich die drei Predellenbilder mit der Errettung eines Ertrunkenen durch den Heiligen und der Erweckung von zwei Toten. Giovanni erzählte währenddessen, wie er sich inspirieren liess, nämlich durch die Anschwemmung einer Leiche an der Mole, zu deren Identifizierung die venezianische Bevölkerung aufgerufen worden war, dorthin zu gehen. Giovanni kam damals in den Sinn, den Heiligen Vinzenz gleich einem Gottvater aus dem Himmel heranschweben zu lassen. Allerdings wurde der Tote in der Mole nie wieder lebendig!
Durch Bartolomeo Bellano wurde Giovanni aufmerksam auf den skulpturalen Reichtum der Stadt. Aber auch die Mosaiken von San Marco interessierten den Gast sehr: zusammen wunderten sie sich über die Pyramiden, dargestellt in der Decke des Nathex in der Geschichte 'Josephs Kornspeicher'. Waren die alten Meister etwa in Ägypten? Eine hieroglyphische Welt öffnete sich hier.
Bartolomeo versprach ihm beim Abschied, bald wieder nach Venedig zu kommen.
Aber trotz dieser Ablenkungen wurde der Alltag fortan grau und fade. Es fehlte ihm seine
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