Das Musterbuch (German Edition)
sind so ... überlegt und kühl, so ganz anders, als die poetischen Werke meines Vaters. Entschuldige meine Direktheit, aber über Perspektive und Proportionen lassen sich stundenlang mit dir plaudern, bei jedem persönlichen Wort hingegen verlässt du den Raum. Leidenschaft hast du wohl nie entdecken können...“ Nach diesen verletzenden Worten sagte Andrea nur stimmlos: "Du hast nichts von deinem Grossvater“, wobei er an das Geschenk, an die Zeichnungen des alten Jacopo dachte, "du bist berechnend, Giovanni Battista! Geh doch zum Teufel!", und er nahm den Weg über die piazza , ohne sich umzuschauen. Für den Jüngeren war damit klar: seine Zeit in Mantua war nun zu Ende.
***
Eines Tages stand der Sohn im Atelier des Vaters. Tränen flossen ihm über's Gesicht. Giovanni sah unverzüglich, dass sich seine Hoffnung, durch den Aufenthalt in Mantua sein Glück zu finden, zerschlagen haben musste.
Giovanni Battista erzählte dem Vater vom Gespräch mit Meister Mantegna und von der Aussichtslosigkeit seiner Liebe zu Antonia. Seine Gefühle für Lucrezia hatte er gar über die vier Monate verloren. "Vater, ich will Mönch werden! Ich will dieses oberflächliche Leben aufgeben und mich ganz einer Sache stellen und das kann nur im Dienst der Kirche sein." Der Vater war von der Courage, die seine Sohn nun entwickelt hatte, beeindruckt und was er längst all die Jahre längst gespürt hatte, eine Nähe zu Gott, sollte nun beim Sohn ausgelebt werden. Gab es einen schöneren Lebenssinn?
Giovanni Battista erblickte erst jetzt zwei kleine Schränkchen, die im Atelier standen, als wären sie zum Abholen bereit. Aber was für Motive sah er da... Das waren keine christlichen Figuren, die der Vater sonst verbildlichte, sondern merkwürdige Gestalten rangelten dort auf den Holztafeln. "Vater, bist Du von allen guten Geistern verlassen?" Giovanni war ihm eine Erklärung schuldig.
"Mein lieber Sohn, dies ist ein rein moralisches Bild - auch wenn es auf den ersten Blick nicht den Anschein hat. Dargestellt sind Allegorien, hier die BEHARRLICHKEIT, als Bacchus, der einem Krieger Weinreben anbietet, das UNBESTÄNDIGE GLÜCK, die Frau mit Kugel in einer gondola , die VORSICHT, die unbekleidete Frau, die mit dem Finger auf den Spiegel weist - sie wird also beobachtet - und die LÜGE, der aus der Muschel kriechende Mann.
Dieses Toilettentischchen habe ich für Vincenzo Catena ausgeführt, dem Kollegen und Freund von Zorzio Barbarelli, und für mich ist dies sozusagen ein Übungsstück, denn die Herzogin hat mir eine Allegorie in Auftrag gegeben und ich kann mich nicht für das Hauptmotiv entscheiden.“
Unglaublich, dachte Giovanni Battista, hierin sind ja meine Erfahrungen der Mantuaner Zeit festgehalten: Ich war beharrlich in meiner Liebe zu Antonia, aber das Glück war mir nicht beständig . Antonia war während ihres Zusammenseins immer vorsichtig - nackt hatte er sie niemals zu Gesicht bekommen, und Mantegna, hatte er nicht gelogen, als er behauptete, er, Giovanni Battista, sei berechnend? War sein Vater also eine Art Prophet?
Da erst entdeckte der Sohn, dass der Vater im Spiegelbild sein eigenes Gesicht gemalt hatte. "Vater, hast du jemals eine Frau bis zur Verzweiflung geliebt?"
"Ich will dir eine Geschichte erzählen, mein Sohn. Das Leben ist ein Liebestraum ! Es war ein junger Mann, nennen wir ihn Poliphilo, sucht im Traum seine Geliebte, nennen wir sie Polia. Um sie jedoch zu finden, sind ihm viele Entschlüsselungen notwendig, sogenannte Hieroglyphen, die er auf antiken Relikten, auf Brücken und Obelisken findet. So ist also eine Reise in die Vergangenheit nötig, um im Präsens seine Geliebte zu finden. Doch das Problem, das sich ihm stellt, ist, dass alles nur eine Traumvision ist und er seine Liebe gar nicht finden kann .
Diese verschlüsselte Bildsprache der Hieroglyphen ist jedoch nur für den Protagonisten erkennbar und zwar nur deshalb, weil er ihren Zusammenhang kennt. Nun kommt das Entscheidende: der Suchende kann mit den Einzelzeichen nichts anfangen, wer aber - wie Poliphilo - nach dem Sinn des Ganzen sucht, der wird am Schluss wie im Traum Erkenntnis erlangen!"
"Dann ist diese Geschichte also nur ein Bild, ein Exempel und dient folglich der moralischen Erziehung?" "So könnte man meinen. Und die Liebesgeschichte, eine Erfindung des Francesco Colonna, soll uns vor Augen halten, dass jeder Teil des Lebens nur ein Mosaikstein - oder eine Hieroglyphe - in deiner Lebensgeschichte darstellt. Wer dies erkennt,
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