Das Musterbuch (German Edition)
vielen Seiten, von mir gehütet und gebündelt, das Erbe deines Grossvaters Jacopo. Ich erhielt diese Zeichnungen zur Hochzeit mit seiner Tochter Nicolosia, meiner geliebten Frau. Ich möchte, dass diese Skizzen der Bellini-Familie zugutekommen. Bringe sie also deinem Vater mit den besten Wünschen - und möge er eines Tages einen ehrwürdigen Erben für das Musterbuch finden!"
Giovann Battista konnte nur ahnen, wie bedeutungsvoll dieser Akt im Leben des alten Malers war und begriff dies auch als Zeichen seiner Aussöhnung mit seinem Vater. Damit wollte er verständlich machen, dass die Kunst Giovanni Bellinis diejenige der gesamten terra ferma übertraf, eingeschlossen seine eigene, und dass er dadurch dem Schwager seinen Respekt zollte. Aber warum jetzt?
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Es war dunkel im Kirchenraum von San Zaccaria, als Giovanni diesen betrat. Seit einer Woche hing sein Werk in der linken Seitenkapelle über dem zweiten Altar: eine sacra conversazione mit den Heiligen Petrus und Katharina, Lucia und Hieronymus. Und in der Mitte thront die Mutter Gottes, demütig und erhaben und unter ihr setzt ein Engel zart den Bogen auf seiner lyra da braccia an.
"Wieviel Musik aus diesem Bild klingt!" Hinter ihm stand Giorgione, der einzige unter seinen jungen Kollegen, der den poetisch-lyrischen Weg in der Kunst gegangen war, ja gar dem Meister Bellini in seiner sanften Wiedergabe ebenbürtig war.
"Wie weit bist du mit deinem Werk für den Dom von Castelfranco?" fragte Giovanni ihn. "Ich habe gute Inspirationen gehabt: Antonellos Pala von Cassiano und dann noch deine Madonna Alberetti oder dieses Meisterwerk! Leider habe ich nicht den Architekturrahmen finden könne, wie du ihn in Symbiose zur realen Architektur geschaffen hast! Du wirst sehen: deine Innovation wird Furore machen!" "Aber dafür hast du als einziger meine Sprache verstanden. Du weisst, was es heisst, mit minimalen Gesten grösste Empfindung auszudrücken." "Ja, im Vergleich zu Lorenzo Lotto, der so schrill in seiner Pala in Treviso deine Ideen in geometrische Formen pressen will!" "Rede nicht abfällig über Lorenzo! Er ist sich nur noch nicht seiner Stärke sicher – so wie du! Aber lass gut sein…Ihr alle bewegt euch jetzt viel auf der terra ferma , und ich verwaise hier in der Serenissima. Deshalb kenne ich zu wenige eurer Werke. Aber in der Tat ist es hier ein wenig eng für viele gute Maler, die ihr geworden seid, und auch Tiziano kann sich hier nur behaupten, weil er seine Auftraggeber bis in die Kreise der wichtigsten Vertreter der Kirche findet. Soeben in einem Auftragswerk des Jacopo Pesaro ihn zusammen mit dem Papst dargestellt!" "Ja, aber er hat nicht nur Kontakt zu den Kirchenleuten - auch die Deutschen am Fondaco interessieren sich für seine Kunst!" Und in aller Bescheidenheit fügte er hinzu: "Zusammen mit ihm habe ich vom Senat einen Auftrag zur Bemalung der neuen Fassade ihres abgebrannten Versammlungsgebäudes erhalten." "Bravo! Fassadenmalerei, das ist ein zukunftsorientiertes Metier. Das ist die Chance für euch, neue Aufträge zu erhalten. Leider habe ich diese Technik nie beherrscht." "Ja, aber dafür hast du uns die Voraussetzung dafür gegeben." Womöglich dachte Giorgione hier an die Ausmalung im Dogenpalast und an das grossformatige Werk mit Papst Alexander III. und Friedrich Barbarossa. "Aber erst einmal muss das neue Gebäude der Deutschen stehen!"
Giovanni sah, dass ein Generationswechsel stattgefunden hatte. Die renovatio , die er einst als junger Mann anstrebte, war vollzogen, die innovatio war die Zauberformel für die Künstler nach ihm. Dabei fielen ihm die extravaganten Verkürzungen seines Schwagers Mantegna ein, der mit seiner Kunst einen Beitrag zu perspektivischen Neuerungen bewirkt hatte. Nur hatte er, Giovanni, ihm dies nie sagen können und wollen.
Giorgione nahm den sanften Wohlklang der Farben in sich auf: das kräftige Rot des Mantel vom Hieronymus, die goldgelbe Toga um Petrus; beide Heiligen standen da wie Säulen der Kirche Gottes im Kontrast zu den und beiden weiblichen Heiligenfiguren in Anmut daneben, die beinahe spiegelbildlich einander zugewandt im geborgenen Apsisraum weilten, in dem der marmorne Thron der Mutter Gottes dominierte. In chromatischen Abstufungen waren die Hauptfarben Rot, Blau, Gelb und Grün in der Kleidung des Figurenensembles hineinkomponiert, in der perspektivischen Klarheit eines Masaccio und in stimmungsvoller Luminosität eines Leonardos. Bellini war mit den Künstlern der Toskana
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