Das mysteriöse Pergament 01 - Begegnungen (German Edition)
magst.“
„Ich weiß“, sagte sie ernst. „Auffallen tun immer nur die
Gewalttätigen. Gott sei mit Euch, Herr.“
Ich fühlte mich seltsam berührt durch diese Worte. Wo war
Gott, wenn solch himmelschreiendes Unrecht geschah?
Und was mich selbst anging, was tat ich hier? War ich nicht
ausgezogen, um meine Sünden zu sühnen?
Stattdessen lastete immer mehr Schuld auf meiner Seele.
Wie konnte es nur sein, dass Menschen, die am Vorabend noch
rührselige Lieder am Lagerfeuer sangen, am Folgetag zu blutrünstigen Bestien
wurden?
Wer sich aus den Grausamkeiten heraushielt, galt als
Schwächling und wurde belächelt, wenn nicht sogar verspottet. War es der Krieg,
der die Menschen verrohte und aus ihnen Raubtiere machte oder steckte die
Bestie in den Menschen drin und kam zum Ausbruch, wenn die Moralbegriffe
aufgehoben wurden?
Grübelnd trat ich auf die Straße und stieg auf Hektor, der
stoisch auf mich gewartet hatte.
Neben mir nahm ich eine Bewegung wahr und schaute zum
Straßenrand, wo ich bei der getöteten Frau das Mädchen entdeckte, welches ich
vor den Soldaten beschützt hatte. Die Kleine stand einfach nur so da und sah
mich unverwandt an.
Als ich anritt und mich noch einmal umschaute, sah sie mir
mit ihren großen Augen traurig nach. Ich winkte ihr zu und sah gerührt, wie sie
scheu lächelte, während ihr eine Träne über die Wangen lief.
Dieser Anblick begleitete mich, als ich aufgewühlt durch die
stillen Gassen in Richtung Stadttor ritt.
Dabei stellte ich fest, dass auch andere Stadtbürger das
Gemetzel überlebt hatten. Mehrere Gestalten, die sich vorsichtig auf die
Straßen trauten, verschwanden bei meinem Anblick panisch in den Hauseingängen.
Nur eine alte Frau lief nicht davon, sondern beschimpfte mich furchtlos.
Die Angst und Wut der Menschen beschämte mich und es
krampfte mir das Herz zusammen.
Ein Stück von der Stadt entfernt schaute ich noch einmal
zurück. Es war ein trauriger Anblick. Viele Häuser waren zerstört, einige
Rauchsäulen stiegen in den Himmel.
Meine Gedanken waren bei der jungen Frau mit dem Kind und
dem kleinen Mädchen. Wie würde ihre Zukunft aussehen?
IX
Aufbruch
Brachetmond Anno 1229
Mit einem flauen Gefühl im Magen machte ich mich am Abend
auf den Weg, um befehlsgemäß in Graf Rainulfs Zelt zu erscheinen.
Es war ein heißer Tag und ich wusste nicht, ob ich vor Hitze
oder vor Aufregung schwitzte. Ich wurde bereits erwartet und die Wachen ließen
mich sofort ein, ohne mir die Waffen abzunehmen. Das deutete ich als gutes
Zeichen.
Der Graf von Aversa saß auf einem bequemen Scherenstuhl, ein
beliebtes Möbelstück in Feldlagern, denn er nahm zusammengeklappt nur wenig
Platz in Anspruch. Neben ihm stand sein Schreiber, was darauf schließen ließ,
dass der Graf keine belanglose Plauderei führen wollte, sondern ein offizielles
Verhör.
Vorschriftsmäßig nahm ich Haltung an und wartete, dass
Rainulf das Wort an mich richten würde. Aber der Graf musterte mich zunächst
nur mit ausdruckslosem Blick. Ich rechnete mit harter Bestrafung. Irgendwann
musste es ja mal so weit kommen, dachte ich verbittert. Sven hatte mich oft
genug gewarnt, mich niemals einzumischen und manches Mal vor einer
Unbesonnenheit bewahrt. Doch dieses Mal war mein Freund nicht dabei gewesen.
„Ritter Conrad von der Lühe“, sprach der Graf mich förmlich
an, „gegen Euch liegt eine Anklage vor.“
Der dürre Schreiber reichte ihm ein Pergament und der Graf
verlas monoton, fast gelangweilt die Anklage.
Mir wurde vorgeworfen, Kriegsknechte mit Waffengewalt daran
gehindert zu haben, von ihrem Kriegsrecht Gebrauch zu machen, was den Befehlen
des Kaisers widerspräche. Plünderungen und Übergriffe gegenüber der Bevölkerung
verstockter Städte dienten der Abschreckung und waren daher als Teil der
Kriegstaktik anzusehen, weshalb sie vom Kaiser nicht nur gebilligt, sondern
sogar ausdrücklich gewünscht wären.
„Bekennt Ihr Euch schuldig?“, fragte Rainulf und sah mich
durchdringend an.
„Jawohl“, entgegnete ich furchtlos. „Schuldig, ein Kind vor
der Schändung durch sechs Soldaten bewahrt zu haben.“
Pädophilie galt wie Homosexualität als äußerst
verabscheuungswürdig und war bei Strafe verboten. Rechtlich gesehen war ein
Mädchen jedoch nach ihrer ersten Blutung kein Kind mehr. Auch wenn sie erst
zwölf oder dreizehn Jahre alt war, galt sie ab diesem Zeitpunkt als erwachsene
Frau.
„Könnt Ihr
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