Das mysteriöse Pergament 01 - Begegnungen (German Edition)
beschwören, dass es sich um ein Kind handelte?“,
fragte Graf Rainulf streng.
„Das Mädchen war höchstens zehn oder elf Jahre alt“,
entgegnete ich überzeugt.
„Das vermutet Ihr. Es erschien Euch also so, als handele es
sich um ein Kind. Ihr könnt es aber nicht mit Gewissheit sagen, ist es nicht
so?“ Die Stimme des Grafen klang jetzt nicht mehr teilnahmslos, sondern
schneidend.
Der Schreiber notierte jedes Wort.
„Ich kann mit Gewissheit sagen, dass ihre Brust noch nicht
entwickelt und kaum von der eines Knaben zu unterscheiden war“, sagte ich
bestimmt und errötete leicht.
„Das ist ein Indiz“, stellte Rainulf von Aversa fest.
Er überlegte eine Weile. Dann erhob er wieder das Wort.
Jetzt sprach er laut und deutlich: „Conrad von der Lühe. Ihr habt die Waffe
gegen Kriegsknechte erhoben, die in ihren Augen nichts Unrechtes taten.“
Stoisch und ohne Reue wartete ich auf das Urteil des Grafen
und hatte dabei das scheue Lächeln des kleinen Mädchens vor Augen. Das allein
war jede Strafe wert.
„Wir halten Euch allerdings zugute“, sprach Graf Rainulf
weiter, „in gutem Glauben gehandelt zu haben, ein Unrecht zu verhindern, die
Schändung eines Kindes. Wir haben keinen Grund, an Euren Worten zu zweifeln.
Außerdem kam es nicht zur bewaffneten Auseinandersetzung und Niemand ist
verletzt worden.“
Der Graf machte eine kleine Pause, um seine Worte wirken zu
lassen.
„Dennoch können wir nicht dulden, dass unsere
Heeresmitglieder gegeneinander die Waffen ziehen. Wir werden deshalb auf Eure
Waffenhilfe verzichten müssen und Euch aus unseren Diensten entlassen. Ihr
werdet morgen früh das Heerlager verlassen, zusammen mit Euren drei
Waffenknechten.“
Ungläubig starrte ich den Grafen an. Ich hatte mit einer
schweren Strafe gerechnet. Stattdessen tat Rainulf nichts anderes als das,
worum ich ihn am Vortag gebeten hatte.
Auf einen Wink des Grafen packte der Schreiber seine
Utensilien zusammen und verschwand beinahe geräuschlos aus dem Zelt.
Unschlüssig blieb ich stehen, da mich der Graf noch nicht
entlassen hatte.
Kaum war der Schreiber verschwunden, als sich ein breites
Grinsen auf Rainulfs Gesicht ausbreitete.
„Nun steht nicht so verkrampft da. Kommt her und setzt Euch,
mein junger Freund“, forderte er mich auf.
„Trinkt erst einmal einen Schluck Wein mit mir. Ich hoffe,
Ihr tragt mir dieses kleine Possenspiel nicht nach. Aber ich hatte keine Wahl,
ich musste Euch hart bestrafen. Und was gibt es Schlimmeres für einen
Ritter, als fort geschickt zu werden?“
„Ich danke Euch, Graf Rainulf“, sagte ich etwas steif und
nippte an dem Becher Wein, den mir mein Gastgeber persönlich eingeschenkt hatte.
„Nun sei nicht so förmlich“, sagte Rainulf aufgeräumt und
verfiel dabei in das vertrauliche Du. „Du weißt, wie ungern ich auf dich
verzichte. Du bist mir ans Herz gewachsen, aber da es dich zurück in deine
raue, kalte Heimat zieht, will ich dich nicht länger aufhalten. Die Päpstlichen
haben sich in ihren Kirchenstaat zurückgezogen und mit den letzten
unverbesserlichen abtrünnigen Baronen werden wir auch ohne dich fertig.“
Dann holte der Graf eine Schatulle hervor, zahlte mir den
Sold für mich und meine Männer aus und wünschte mir eine gute Heimreise. Zum
Abschied schloss er mich sogar in seine Arme. Gerührt erwiderte ich seine
Umarmung. Mit dem erhaltenen Geld war es kein Problem, die Heimreise zu
finanzieren.
Am nächsten Morgen packten meine Waffenknechte froh gelaunt
unsere Sachen zusammen. Bevor ich mit meinen Begleitern das Zeltlager verließ,
wollte ich mich noch von Sven verabschieden. Der vierschrötige Normanne war mir
ans Herz gewachsen. Wie ich jedoch verblüfft feststellte, war an der Stelle, an
der das Zelt meines Freundes gestanden hatte, nur noch eine kreisrunde Stelle
im Gras zu sehen. Verwundert sah ich mich um, konnte den riesigen Ritter jedoch
nirgendwo entdecken.
„He, weißt du, wo Ritter Sven steckt?“, fragte ich den
gerade vorbeikommenden Knappen eines jungen Ritters, dessen Zelt nicht weit
entfernt stand.
„Der ist heute ganz früh aufgebrochen. Ich weiß nicht,
wohin, Herr.“ Der Knappe zuckte mit den Schultern und ging weiter.
Vielleicht hatte der Normanne einen wichtigen Auftrag
bekommen und war aufgebrochen, ohne sich zu verabschieden. Sicher war er kein
Freund von Abschiedsszenen.
Wie auch immer, ich wollte keine Zeit mehr verlieren und
sofort aufbrechen. Resigniert kehrte ich zu meinen Leuten zurück, die
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