Das mysteriöse Pergament 01 - Begegnungen (German Edition)
Hals warf, in einer Situation,
in der er ihr wehrlos ausgeliefert war?
Verstohlen schaute sie zu Sven herüber, der noch immer mit
freiem Oberkörper im Feuer herumstocherte, als könne ihm die Kälte nichts
anhaben. Ein leises Lächeln umspielte seinen Mund, als er plötzlich aufsah und
ihr zuzwinkerte.
Schnell senkte Line den Blick.
Conrad beobachtete das Minenspiel der beiden und war völlig
verwirrt. Als er in Lines Armen erwacht war, hatte er sich wie im Paradies
gefühlt. Aber jetzt kam ihm der Verdacht, dass sie es vielleicht nur getan
hatte, um ihn vor dem Erfrierungstod zu retten.
War sie deshalb so reserviert, als bereute sie es bereits?
Er wollte sie fragen, fürchtete aber, etwas Dummes oder Falsches zu sagen.
Eine Weile war nur das Prasseln der Flammen zu hören. Alle
starrten in das Feuer, als gebe es dort etwas zu sehen.
Schließlich nahm Conrad all seinen Mut zusammen. „Du hast
mir das Leben gerettet“, brachte er heiser hervor.
„Ritter Sven hat Euch aus dem Wasser gezogen“, erwiderte
Line leise, „ich habe Euch nur – äh, gewärmt.“
Dabei war sie froh, dass die Männer in der zunehmenden
Dunkelheit nicht sehen konnten, wie sie errötete.
Conrad zog die Brauen zusammen und sagte nichts mehr. War es
möglich, dass ein ehrbares Mädchen ihre Unschuld opferte, nur um einen Freund
zu retten? Line traute er das zu, denn sie war nicht wie andere Mädchen. Sie
war bei einer Einsiedlerin aufgewachsen, die sicher nichts auf Konventionen und
die falschen Moralpredigten der Priester gab, die aber das Leben als das
höchste Gut ansah.
Dennoch hatte sie sich nach den Moralvorstellungen seiner
Mitmenschen zur Hure gemacht. Es sei denn, er bekannte sich zu ihr. Alles in
ihm drängte danach, ihr hier und jetzt zu sagen, wie sehr er sie liebte und
dass er ehrliche Absichten hegte.
Aber musste sie dann nicht denken, er würde nur aus
Ritterlichkeit handeln, um ihre Ehre wieder herzustellen?
Er redete sich ein, einen geeigneten Zeitpunkt abwarten zu
müssen und tat so, als wäre zwischen ihnen nichts vorgefallen, streckte seine
Füße dem Feuer entgegen und setzte eine Mine auf, die er für teilnahmslos
hielt.
Sven kannte ihn jedoch besser. Er musterte ihn eine Weile
und amüsierte sich im Stillen.
Dann schaute er zu Line, die auffällig intensiv mit einem
Stock im Feuer herumstocherte und dabei Funken aufwirbelte. Schließlich stand
sie auf und verschwand hinter einem Busch, um sich zu erleichtern.
Schweigend starrten die beiden Freunde ins Feuer. Sven holte
einmal tief Luft, sagte aber nichts.
Line kam zurück, sank anmutig in den Schneidersitz und legte
überflüssiger Weise noch ein paar Zweige nach.
Von der Seite musterte Conrad das junge Mädchen, auf dessen
Gesicht die Flammen Licht und Schatten warfen. Sie sah so zerbrechlich aus. Und
doch war sie unglaublich stark, wenn es darauf ankam.
„Wir sollten heute früh s-hlafen gehen, damit wir morgen in
aller Frühe weiter reiten können“, sagte Sven in die Stille hinein. „Heute
können wir ohnehin nicht mehr weiter. Zunächst müssen unsere Kleider trocknen.
Ich überwache das Feuer.“
„Ich löse dich um Mitternacht ab“, erklärte Conrad und erhob
sich.
Wie immer, wenn sie im Freien übernachteten, teilten sich
Conrad und Line eine Decke. Aber Conrad ließ ein wenig mehr Abstand als sonst.
Auch Line schien verunsichert und drehte sich zur anderen
Seite.
Sven beobachtete das vom Feuer aus und schüttelte den Kopf.
Es war nicht zu übersehen, dass Line Conrad liebte und er ihr ebenfalls
rettungslos verfallen war. Nur trauten sich beide nicht, das Offensichtliche
auszusprechen.
Er musste über seinen Freund lächeln, der sich in jeder
Situation zu helfen wusste und sich vor nichts fürchtete. Aber hier versagte
sein nüchterner Verstand und er war völlig hilflos. Der Trottel versteht so
wenig von Frauen wie ein Esel vom Seiltanz , dachte er bei sich. Er nahm
sich vor, mit seinem Freund bei der nächsten Gelegenheit ein ernsthaftes
Gespräch zu führen.
Aber dazu sollte es nicht kommen, denn in den nächsten Tagen
überschlugen sich die Ereignisse.
XVI
Der Gauklerjunge
Gilbhartmond Anno 1229
Der Gasthof machte einen gepflegten Eindruck. Er bestand aus
mehreren Gebäuden, die von
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