Das mysteriöse Pergament 01 - Begegnungen (German Edition)
nichts
mehr spürten, wenn die Schmerzgrenze überschritten war.
Aber in aller Regel kam der Schmerz dann später umso
heftiger zurück.
„Geht nach Hause, Leute“, forderte Conrad die schaulustige
Meute um den Müller auf, „hier gibt es nichts mehr zu sehen.“
Teils zufrieden, teils vor sich hin grummelnd entfernten
sich die Männer. Auch die anderen Schankgäste verließen den Raum, bis nur noch
der Müller mit seinen beiden Zeugen , die wohl seine Knechte waren, übrig
blieb.
„Der Junge schuldet mir noch einen halben Schilling“, sagte
er murrend. „Er hat beim Würfelspiel verloren und konnte nicht zahlen.“
Nach kurzem Zögern zahlte Sven ihn aus. „Das wird der Bengel
abarbeiten“, grollte er.
Dann ging endlich auch der Müller. Jetzt war die Reisegruppe
allein im Schankraum. Der Wirt wieselte herbei und brachte noch einen Krug
Wein. Dabei grinste er über das ganze Gesicht.
Verständnislos starrte Line ihn an, denn sie hatte ihn für
einen gutmütigen Menschen gehalten, der sich verdrückt hatte, um nicht Zeuge
der Bestrafung des Jungen zu werden. Aber nun schien er sich darüber zu freuen.
Noch mehr wunderte sie sich, als Sven ebenfalls schmunzelte.
Völlig irritiert war sie, als sie zu dem mageren Jungen sah,
der aus seiner Starre erwacht war und ihr, ebenfalls wie ein Honigpferd
grinsend, zuzwinkerte. Seine Augen blitzten schelmisch.
Ein Verdacht stieg in ihr auf. Resolut packte sie das Hemd
des Jungen und zog es hoch. Der Rücken war zwar blutverschmiert, aber es waren
keine Striemen zu sehen. Er hatte keinerlei Verletzungen, das Blut konnte nicht
sein eigenes sein.
Als sie fragend zu Sven sah, zuckte dieser mit den
Schultern. „Was soll ich mit einem Diener, der sich tagelang nicht bewegen
kann?“, fragte er mit hochgezogenen Brauen.
Dann setzte er treuherzig hinzu. „Die Leders-hürze des Wirts
hatte es mal wieder nötig, so richtig durchgewalkt zu werden.“
Jetzt grinste der Wirt noch breiter und entblößte eine Reihe
brauner Zähne. Er nickte Line freundlich zu. Seine Erleichterung über den
glimpflichen Ausgang des Vorfalls war ihm deutlich anzusehen.
„Das Blut hat ein Huhn ges-pendet“, ergänzte Sven. Dann
wandte er sich an den Jungen. „Du wirst selbstvers-tändlich deine S-hulden
abarbeiten.“
„Ich darf bei euch bleiben?“ Er strahlte, als könne er sein
Glück kaum fassen.
„Wie heißt du eigentlich?“, wollte Line wissen.
„Antonio. Das ist italienisch“, sagte der Junge
wichtigtuerisch.
Skeptisch betrachtete Conrad den Burschen. „Aber du siehst
nicht gerade aus wie ein Italiener. Ich habe noch nie einen mit rotblonden Haaren
gesehen.“
„Unser Kaiser Federico hat auch rote Haare, und er ist in
Apulien aufgewachsen“, konterte der Rotschopf.
„Ich habe die Haare meiner Mutter geerbt“, ergänzte der
Junge grinsend, „sie stammt aus Friesland.“
„Friesland. Dort ist unser Kaiser nie gewesen, soweit ich
weiß. Dann bist du wohl kaum einer seiner vielen Bastarde, das beruhigt mich“,
meinte Sven mit ernster Miene.
Conrad grinste. Kaiser Friedrich war für seinen freizügigen
Lebenswandel bekannt.
„Mein Vater glaubte das jedenfalls“, erwiderte Antonio
prompt.
Alle lachten.
„Und wo ist dein Vater?“, wollte Line wissen.
Das Gesicht des Jungen verdüsterte sich. „Ich habe keinen
Vater mehr“, brachte er heraus.
Zuerst stockend, dann immer flüssiger erzählte er, dass er
mit einer fahrenden Gauklertruppe herumgezogen war, die aus Italien kam und ihn
als kleines Kind bei sich aufgenommen hatte. Viele glückliche und auch schwere
Jahre hatte er mit den Gauklern erlebt.
„Eines Tages war ich vorausgeeilt, um die Ankunft der Gruppe
anzukündigen und die Leute neugierig zu machen. Um die Zeit zu überbrücken,
führte ich allerlei kleine Kunststücke vor. Aber ich wartete vergebens auf die
anderen. Als die Gaukler nicht kamen, zerstreuten sich die Leute langsam
wieder, zur großen Enttäuschung der Kinder.“
Gaukler waren allerorts gern gesehen, denn sie brachten
etwas Abwechslung in den arbeitsreichen, eintönigen Alltag der Menschen.
Meistens war auch ein Bader dabei, der die Kranken versorgen konnte und sich
gleichzeitig als Zahnbrecher betätigte.
Auch die Tinkturen der Zigeunerinnen, die Heilung,
Manneskraft oder Fruchtbarkeit versprachen, waren beliebt. Am meisten aber
freuten sich die Kinder auf die bunte Gesellschaft und die immer zu Späßen
aufgelegten Schausteller.
„Ich habe mich dann auf den Weg gemacht,
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