Das mysteriöse Pergament 01 - Begegnungen (German Edition)
war er furchtlos auf sie losgegangen und nahm eher
Blessuren in Kauf, als ein Feigling genannt zu werden.
Bald schon hatte er sich damit einen solchen Respekt
verschafft, dass sich selbst viel stärkere Jungen mit ihm gut stellten oder ihm
lieber aus dem Weg gingen.
Er fürchtete sich vor keinem Feind, vor keinem Abenteuer. Er
hatte keine Angst.
In Gedanken stellte er sich ein paar Situationen vor, die
ihm für das Geständnis geeignet schienen und legte sich ein paar Worte zurecht,
verwarf sie aber immer wieder. Es war weit nach Mitternacht, als ihn endlich
der Schlaf besiegte.
XVII
Die Verwandlung
Gilbhartmond Anno 1229
Zu Conrads Überraschung stand Antonio am nächsten Morgen mit
den beiden Pferden bereit, die bereits aufgezäumt und gesattelt waren.
Es war ihm ein Rätsel, wie er das bei Hektor geschafft
hatte. Während Antonio die Pferde aus dem Stall führte, sprach er leise auf sie
ein. Conrad staunte, wie lammfromm sein Schlachtross sich von dem Jungen am
Halfter führen ließ.
Als Line die Zeche begleichen wollte, lehnte Sven das
entschieden ab und kratzte seine letzten Schillinge aus seiner Geldkatze
zusammen.
Line sah sich nach Flecki um und entdeckte den Kater
schließlich bei den beiden Kindern Antje und Johann. Genüsslich ließ er sich
von den beiden Kindern streicheln, die ihn offenbar ins Herz geschlossen
hatten.
Sie ging hin und wollte ihn hochnehmen, aber das Mädchen sah
sie flehentlich an und bettelte: „Dürfen wir ihn nicht behalten, wir werden
auch für ihn sorgen“, sagte sie mit Tränen in den Augen.
Ihr älterer Bruder nickte eifrig. „Unsere Murle ist doch
gestorben“, sagte er kleinlaut.
In diesem Moment trat die Köchin aus der Hintertür und
stellte eine Schüssel hin, die Flecki magisch anzog. Sofort tat der Kater sich
gütlich an den Köstlichkeiten, die vom Vortag übrig geblieben waren. Die Köchin
schmunzelte gutmütig und strich den beiden Kindern über die Köpfe.
Line war hin und hergerissen. Sie wusste, Flecki würde es
hier gut haben, aber es fiel ihr dennoch schwer, sich von ihm zu trennen. Er
war die letzte Verbindung zu ihrem früheren Leben, ihr einziger Freund aus
einer vergangenen Zeit.
„Wird er euch auch nicht zur Last fallen?“, fragte sie
halbherzig.
„Zur Last fallen? Im Gegenteil, endlich beschäftigt mal
jemand die beiden Racker, erwiderte die Köchin lächelnd, „sonst machen sie doch
nur Dummheiten. Die Haare wird er uns sicher auch nicht vom Kopf fressen, hier fällt
immer was ab. Außerdem kann er sich um die Mäuse kümmern, die uns heimsuchen,
seit unsere alte Katze gestorben ist.“
Line gab sich einen Ruck.
„Wir werden Flecki fragen“, sagte sie und stellte den
offenen Weidenkäfig auf den Boden.
Dann fragte sie den Kater: „Willst du wieder in den Korb?“
Die beiden Kinder standen ein paar Schritte entfernt und
sahen beinahe ängstlich zu, wie Flecki zögernd auf Line zuging. Plötzlich sah
Flecki sich zu dem kleinen Mädchen um, die ihm die rechte Hand ausgestreckt entgegen
hielt. In der Linken, die sie auf dem Rücken versteckte, hielt sie einen Zipfel
Leberwurst.
Unwiderstehlich angezogen von dem Duft der Leckerei lief der
Kater zu ihr.
„Ich glaube, Flecki will bei Antje bleiben“, sagte ihr
älterer Bruder triumphierend.
„Ja“, bestätigte Line lächelnd. „Es sieht ganz so aus.“
Die Kinder jauchzten vor Freude.
Verstohlen strich Line sich eine Träne aus dem Augenwinkel,
kniete nieder, streichelte ihren kleinen Freund noch einmal und sagte ihm stumm
lebe wohl.
Als Line sich wieder aufrichtete, sah sie, dass Antonio die
Szene beobachtet hatte.
Jetzt kam sie sich albern vor, sich wegen eines Katers so
aufzuführen, als würde sie ein Kind abgeben. Aber zu ihrer Verwunderung schien
der Junge Verständnis für ihren Kummer zu haben.
„Er wird es hier gut haben“, tröstete er Line mit ernster Miene,
„Reisen ist nichts für Kater.“
Line nickte wortlos. Sie war Antonio sehr dankbar, dass er
sich nicht über sie lustig machte. Noch einmal warf sie einen Blick zurück auf
das friedliche Bild, dann gesellte sie sich zu den beiden Männern, die bereits
das Gepäck verstaut hatten und aufbruchsbereit waren.
Es war bitterkalt, aber trocken, als die kleine Reisegruppe
sich
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