Das mysteriöse Pergament 03 - Heimkehr (German Edition)
erinnern?“
„Weißt du, bei den Zigeunern ist es so: wenn sie sich etwas
ganz doll wünschen, oder etwas sie besonders berührt, sagen sie es ständig vor
sich hin - wie eine Beschwörungsformel. Manchmal kleiden sie ihre Sehnsüchte
und Ängste auch in ein Lied. Ich glaube, so ist es gewesen. Deine Mutter hat
dir dieses Lied immer und immer wieder vorgesungen.“
„Aber ich kann mich nicht einmal mehr an ihr Gesicht
erinnern.“ Line liefen Tränen über die Wangen. „Wenigstens ist mir dieses Lied
geblieben. Jetzt verstehe ich, warum es mich immer getröstet und gestärkt hat,
obwohl ich die Bedeutung der Worte gar nicht verstand.“
„Ich glaube, du hast sie doch verstanden – wenn auch nicht
wörtlich. Es ist ein Lied von Kummer und Hoffnung.“
Line nickte. Sie war Antonia unendlich dankbar.
„Mein Vater war auch ein Zigeuner“, sagte Antonia plötzlich.
„Du hast doch gesagt, er wäre Italiener.“
„Das stimmt. Ein Zigeuner aus Italien. Von ihm habe ich
Romani gelernt.“
Wenzel stöhnte leise im Schlaf und die beiden Mädchen
richteten ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihn.
„Nicht gerade ein Lied für einen erwachsenen Mann“, stellte
Line fest.
„Nicht auf die Worte kommt es an“, entgegnete Antonia, „das
Lied hat etwas Tröstendes und Beruhigendes an sich.“
„Ja“, gab Line zu. Das hatte sie schon sehr oft bemerkt.
Schon damals, als sie die Weise an den Krankenlagern im Kloster gesungen
hatte.
„Das Fieber steigt“, sagte Antonia ängstlich und legte
Wenzel einen kühlen Lappen auf die Stirn. Sein Körper glühte förmlich. „Wird er
sterben?“
„Er ist jung und stark“, entgegnete Line ausweichend. „Ich
komme heute Abend noch einmal, um nach ihm zu sehen. Ich schicke dir Tine, sie
soll ihm die Stirn kühlen und ihm zu trinken geben, aber immer nur einen
kleinen Schluck.“
„Aber das kann ich doch machen.“
„Du bist selbst verletzt und viel zu schwach, die ganze
Nacht zu wachen. Du brauchst Schlaf. Tine macht das gern.“
Sie legte ein paar Decken bereit. Als Antonia sie erstaunt
ansah, erklärte sie: „Im Moment steigt das Fieber, aber genau so schnell kann
es wieder fallen und dann wird er schrecklich frieren. Tine muss ihn
abwechselnd kühlen und wärmen. Heute Abend komme ich wieder und löse sie ab.“
„Das brauchst du nicht“, sagte Antonia, „ich bin ja auch
noch da.“
„Muss ich mich wiederholen?“, fragte Line streng. „Wenn du
nicht schlafen kannst, gebe ich dir Mohnsaft. Du hilfst Wenzel nicht, wenn du
nicht schnellstens gesund wirst.“
Resigniert hob Antonia die Schultern. Dann lächelte sie Line
an. „Es ist schön, dass du da bist, Line“, sagte sie.
Die junge Heilerin lächelte zurück und ließ sich ihre
Besorgnis nicht anmerken. Wenn er die nächste Nacht übersteht, wird er es
vielleicht schaffen, dachte sie.
XIX
Der Schatz
Erntingmond Anno 1230
Conrad, Hannes und Constance standen im kreisrunden
Kellergewölbe im Fundament des Wohnturms und schauten sich mit offenen Mündern
um. Es sah aus, als hätte hier ein Verrückter gehaust. Die Ziegelwände waren an
etlichen Stellen aufgebrochen, Steine lagen am Boden und Staub hing in der
Luft. Man hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, die Steinhaufen zu
beseitigen.
Die Decke des großen Raumes wurde von mehreren Bögen
getragen, von denen jeweils vier auf dicken Säulen zusammentrafen, die in
regelmäßigen Abständen standen. Diese Konstruktion bildete ein stabiles
Kreuzgewölbe.
Da die Temperatur hier wenig schwankte und es im Sommer
angenehm kühl war, wurde dieser Raum seit jeher als Weinkeller und
Vorratskammer genutzt. Hier lagerten etliche Fässer mit Wein, Bier, Kohl und
anderen Nahrungsmitteln. Eine der großen, in die Wände eingelassenen Nischen
diente als Waffenkammer, in einer anderen lagerten Werkzeuge, Stricke, Ölkessel
und andere nützliche Gegenstände, die im Falle einer Belagerung gebraucht
wurden. Selbst in diesen Nischen hatte man Steine heraus gebrochen.
„Ich glaube, Arnulf hat hier ebenfalls die Kriegsbeute
deines Vaters vermutet“, sagte Hannes, der seine Stimme als erster wieder fand.
„Sieht so aus.“ Conrad trat an die Wand und schaute
ungläubig auf die heraus gestemmten Ziegelsteine, die am Boden lagen. Hinter
den Ziegeln hatte man an etlichen Stellen die großen Feldsteine frei gelegt,
die das eigentliche Fundament bildeten.
„Bloß gut, dass er den Turm nicht ganz eingerissen hat“,
bemerkte Constance, „sondern nur
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