Das Mysterium der Zeit
osmanischen Vormarsch mühsam entgegenstemmen, indem es durch diplomatisches Geschick und verlustreiche |320| Kriege seine Besitztümer in der Adria, im griechischen Meer und in Candia verteidigte.
Im Laufe weniger Jahrzehnte schworen viele tausend Christen ihrer Familie, Religion und Staatsbürgerschaft ab und gesellten sich zu den Korsaren. Manche waren einfache Matrosen, die in die Hände tunesischer oder algerischer Korsaren gefallen waren. Sie wurden wie Geiseln behandelt, aber in ihrer Heimat wollte oder konnte keiner Lösegeld bezahlen. Um der Sklaverei zu entgehen, konvertierten sie in einer eiligen Zeremonie zur Religion des Propheten und wurden freie Männer. Sie heirateten, häufig mehrere Frauen zugleich, gründeten Familien, bauten sich Häuser. Viele stiegen in der Marine der Barbareskenreiche rasch in hohe Ränge auf, wo List, Befähigung zum Kommando und Grausamkeit im Kampf benötigt und gut bezahlt wurden.
Aber auch ein gewaltiger Tross Hungerleider, Bettler und Nichtstuer machte sich nach Tunis, Tripolis und Algier auf. In der Heimat gab es keine Hoffnung für sie: arm waren sie und arm würden sie bleiben. Bei den Korsaren jedoch stehen alle Türen offen: Matrosen wie Kapitäne bekommen etwas von der Beute, jeder kann reich, mächtig und berühmt werden. Die Korsarenreiche wussten ihre Feinde geschickt zu kaufen: sie boten die Möglichkeit eines besseren Lebens, wo Frauen unterdrückt und Fremde nicht geächtet werden, wo es keinen Adel gibt, also auch der Arme bis zu den höchsten Stufen der Gesellschaft aufsteigen kann. Die Religion kennt nur wenige einfache Gebote, es gibt kein Fleischverbot am Freitag, und jedermann kann seine Abenteuerlust und seinen Groll gegen das alte Vaterland ausleben. Im Nu ist man in die schmutzigen Truppen der Barbareskenmarine aufgenommen, wo Tapferkeit, oder besser Gräueltaten mit klingender Münze bezahlt werden.
Bereitwillig verkaufen die Renegaten ihre Ortskenntnisse: sie kennen sichere Häfen, wo Proviant beschafft werden kann, sie wissen, an welcher Reede man für den Feind unsichtbar ist oder welches Küstenstädtchen leicht auszuplündern ist. Oft führen sie selbst die Überfälle auf ihre Heimatorte an, denn schlaue Kapitäne, wie der griechische Renegat Kair Eddin, der berühmte Barbarossa, versprechen ihnen Lehen in diesen Ländereien. Oft vermitteln sie zwischen den Korsaren und den Nazarenern, was ihnen Ansehen und weitere Erträge einbringt. Es ist die infame Rache des Armen am Reichen, des |321| Pechvogels am Glücklichen, des Neidischen am Bescheidenen: Der Teufel weiß genau, dass Neid das beste Mittel ist, Zwietracht und Unglück zu säen; es genügt, die Armen und Enterbten zu überzeugen, dass ihr Zustand nicht Gottes Wille, sondern eine Ungerechtigkeit ist, die mit Gewalt, Raub und Mord ausgerottet werden darf.
Die ganze Macht der Barbareskenreiche gründet sich auf die Piraterie oder vielmehr auf den Seekrieg, der nichts anderes ist als Piraterie im Namen eines Staates oder Königsreichs dank einer offiziellen Ermächtigung, dem sogenannten Kaperbrief. Mit blitzschnellen Aktionen werden Handelsschiffe verfolgt, beschossen und geentert. Ergibt die Mannschaft sich nicht sofort, wird sie mit erbarmungslosen Massenexekutionen bestraft. Manche, wie Kamal Rais, ertränkten jedoch die Matrosen aller eroberten Schiffe oder schickten dem Sultan bis zu hundert abgeschlagene, aufgespießte Köpfe. Alle Art Waren, Öl, Wein, Getreide, sogar Wäsche und die Schiffe selbst werden fortgeschleppt. Eine besonders begehrte Beute sind Menschen, für die Lösegeld erpresst werden kann. Wenn es wichtige Persönlichkeiten sind, lassen sich mit diesem Faustpfand politische Verhandlungen führen. So kann eine Bande Schurken wider alle menschliche Logik von gleich zu gleich mit dem Papst oder dem französischen König verhandeln.
Marineoffiziere, Geistliche, Adelige oder Botschafter sind die besten Beutestücke, denn für sie zahlt fast immer jemand. Dann kommen Händler oder Passagiere, die meist unter Verwandten und Landsleuten eine Kollekte für sich organisieren können. Wer nicht zahlen kann, bleibt für immer unter den Barbaresken und wird zum verachteten, unterernährten Sklaven für eine große Familie. Religiöse Bruderschaften sammeln Gelder, um die Armen freizukaufen, doch das ist mühsam und langwierig, und bis zur Befreiung können Jahre vergehen.
Diese menschliche Ware wird bei Überfällen auf Handelsschiffe oder sogar bei Siegen gegen spanische,
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