Das Mysterium der Zeit
von Kardinal Mazarin. Kurz, du hast dich von Kindesbeinen an zwischen den roten Soutanen herumgetrieben. Ich hoffe, dass du in all den Jahren wenigstens erkannt hast, dass es in der Kirche schon immer zwei Strömungen gab. Eine besteht aus den dogmatischen Aristotelikern des Heiligen Offiziums; die andere ist die Strömung der toleranten Platoniker unter den Theologen, zu denen beispielsweise auch Papst Urban VIII. gehörte. Dies vorausgeschickt, möchte ich dich daran erinnern, dass es damals für ausreichend gehalten wurde, Campanella für seine Entlassung aus der Haft Psalmen rezitieren zu lassen und ihm zu befehlen, innerhalb von acht Tagen in sein Kloster zurückzukehren, da der gute Tommaso viel lieber bei seinen Freunden herumlungerte und von einem Bankett zum anderen lief«, schlug Schoppe zurück.
»Natürlich hat man ihn sofort entlassen. Das Urteil kam erst nach einem Jahr Kerker!«, erwiderte Naudé, ohne auf den Seitenhieb des Verehrungswürdigen zu achten, was seine Unkenntnis in Kirchendingen betraf.
|381| »Kein Jahr Kerker, sondern milde Haftbedingungen, lieber Gabriel: Campanella hatte ein schönes Zimmer mit Fenster, konnte schreiben, forschen, lesen und sogar empfangen, wen er wollte. Und diese Behandlung war immer dieselbe, jedes Mal, wenn er wegen seiner ketzerischen Schriften vom Heiligen Offizium verurteilt wurde. Als die Spanier ihn in Neapel verhafteten, wurden jedoch ganz andere Saiten aufgezogen.«
»Mein guter Caspar, in Neapel ist Campanella nach einem Prozess durch die zivile und die religiöse Gerichtsbarkeit gleichzeitig im Gefängnis gelandet. Unter den Richtern saßen auch Inquisitoren.«
»Gefängnis!«, riefen die beiden Bärtigen erschrocken mit düsteren Stimmen, endlich von ihren Tellern abgelenkt.
Die Reaktion wurde als Empörung über das Schicksal Campanellas aufgefasst, was Naudé ermutigte.
»Campanella musste sich verrückt stellen. Nach der Lehre der Inquisition muss die Todesstrafe nämlich im Fall von Irrsinn aufgehoben werden, der theologischen Überlegung gemäß, dass ein geistig Gesunder im letzten Moment bereuen, also ins Paradies kommen kann, während ein verrückt gewordener Verbrecher, an dem man die Todesstrafe vollzieht, tatsächlich zur Hölle verdammt ist. Menschen haben jedoch nur das Recht, andere zum Tode, nicht zur Hölle zu verurteilen.«
Monatelang spielte Campanella mit großer Seelenstärke den Verrückten, erzählte Naudé. Er tat so, als habe er durch das Elend der Haft und die Folter den Verstand verloren. Die Richter waren misstrauisch, sie stellten ihm einen Spion hinter die Zellentür, der ohne Unterlass sein Verhalten überwachen sollte. Campanella merkte es und stellte sich sechs Monate lang wahnsinnig, führte ununterbrochen irre Reden und zündete sogar mehrmals das Strohlager in seiner Zelle an, womit er sich in Lebensgefahr brachte. Im Sommer 1600 wurde er der Folter für schwere Fälle unterzogen: man hängte den Angeklagten an den Schultern an einen Querbalken und zog so lange, bis die Oberarmknochen aus den Schultergelenken sprangen. Mitunter renkten die Folterknechte sie wieder ein und die Prozedur begann von Neuem. Eine normale Folter dauerte eine halbe Stunde, bei Campanella dagegen wurde die »Nachtwache« angewandt: vierzig Stunden, also zwei Tage lang ununterbrochene Verhöre und Folterungen ohne Schlaf. Alle halbe Stunde musste er sich auf einen spitzen Keil setzen, der ihm das Fleisch zerfetzte und insgesamt zwei Pfund Blut verlieren ließ.
|382| Mit unglaublicher Kraft konnte er bis zur sechsunddreißigsten Stunde den Wahnsinnigen spielen, doch dann entfuhr ihm ein Hilfeschrei an die Mutter, der seine Verstellung zu verraten drohte. Mit äußerster Geistesgegenwart rief er gleich darauf einen sinnlosen Satz aus: »Zehn weiße Pferde«. Endlich überzeugten sich die Richter von seinem Irrsinn, und nach weiteren vier Stunden wurde Campanella offiziell für verrückt erklärt.
So rettete er sein Leben, aber er wurde zu lebenslanger Haft verurteilt bis zum endgültigen Urteilsspruch und in der Festung Maschio Angioino eingeschlossen. Wegen des großen Blutverlusts war er nur knapp dem Tod entgangen. Die halbe Stunde Tageslicht, die ihm gewährt wurde, um im Brevier zu lesen (er war immer noch Dominikanermönch), nutzte er, um den
Sonnenstaat
zu schreiben.
Als der Name des berühmten Buches fiel, warf Naudé den drei Bärtigen einen verschwörerischen Blick zu, doch sie waren noch immer mit Essen und Trinken beschäftigt
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