Das Mysterium der Zeit
sie nur den Kopf stecken können« (
Les Privileges et fidelitez des Chastrez
, in: »Variétés historiques et littéraires. Recueil de pièces volantes rares et curieuses en prose et en vers«, revues et annotées par Édouard Fournier, Tome III, 1855, S. 333–336)
Auch der berühmte Farinelli suchte eine Ehefrau und schrieb, dass dies ihm das Wichtigste sei, während er eine zornerfüllte Scham gegenüber der »singenden Zunft« hegte, der er angehörte. In den katholischen Ländern Italien und Spanien, in denen er lebte, bekam er jedoch nie die Erlaubnis zu heiraten. Den Kastraten Velluti trieb es mit der Illusion, dass er sich operieren lassen könne, um sich von der Kastration zu befreien und endlich eine Familie zu gründen, sogar bis in die Krim.
Filippo Balatri aus Pisa hingegen wurde wegen der Liebesbeziehung zu Anna Mons, der Geliebten des Zars, in Russland verhaftet. Er floh und fand Zuflucht beim Khan der Kalmücken, wo er jedoch als exotische Rarität wahrgenommen wurde und sich peinlichen Fragen aussetzen musste, wie Balatri selbst in einem kleinen Gedicht berichtet, in dessen letzten Versen die schreckliche Realität der pädophilen Ausbeutung, aus der die Kastraten hervorgingen, zum Sinnbild wird:
Ihn nichts mehr von der Fragerei abhält:
Von wo ich sei? Und ob ich Weib ob Mann.
Ob Erdenkind oder vom Himmel fällt,
ein Wesen, das so lieblich singen kann.
Ich bin um eine Antwort recht verlegen.
Sag ich »ein Mann«? Die Lüge ist banal.
Sag ich »ein Weib«? Das sag ich nicht von wegen!
Und ich erröte, sage ich »neutral«.
Ein Herz gefasst will Antwort ich ihm geben:
Dass ich ein Mann aus der Toskana sei.
Und Hähne gäb es dort, die Eier legen.
Und ein Sopran dort schlüpft aus jedem Ei.
Die Hähne wie die Schlachter Klingen zücken.
Die uns lang brüten lassen, ungewollt.
Ist der Capaun gemacht, die Eier schmücken
Liebkosungen
und Schmeichelei und Gold.
|834| Figuren und Gladiatoren
Der Respekt vor den historischen Daten und Fakten nötigte uns, nicht nur kleinste biographische Einzelheiten, sondern auch die Natur und das Temperament unserer Persönlichkeiten zu berücksichtigen. Man glaube nicht, dass die blutigen Auseinandersetzungen zwischen unseren gelehrten Figuren eine literarische Übertreibung seien. Dreiste Prügeleien waren das täglich Brot dieser kränkelnden Bücherwürmer, die heute unter dem gnädigen Namen Gelehrtenrepublik zusammengefasst werden. So schrieb Charles Nisard in seinem berühmten Fresko des gebildeten Europas zu Zeiten Skaligers, Nau dés, Guyetus und Schoppes (
Les Gladiateurs de la République des Lettres
, Paris 1860, S.VII–VIII):
»Ich habe nicht lange gebraucht, um den passenden Namen für die Autoren dieser Schriften zu finden. Da sie sich mit ihren derben und brutalen Polemiken der Ehre benommen hatten, unter den Schriftstellern hervorzutreten, die mehr für die Wahrheit als um ihre Eigenliebe kämpften, und weniger beschworen denn überlegten, musste ich ihnen einen anderen Platz suchen, und mit diesem Platz einen Namen, der mit der Gewalt und der Erfolglosigkeit ihres Vorgehens übereinstimmte. Dieser Name wurde mir von der lateinischen Sprache geliefert, die diese in ihren Schriften verwendeten, und von dem Volk, das in dieser Sprache redete. Die Römer bezeichneten mit dem Wort
digladiari
das laute Disputieren, das dreiste Zanken, letztlich den Akt, aus der Sprache dasselbe blinde und wilde Unterfangen zu machen, das die Helden in der Arena mit ihren Schwertern vollführten. Eine analoge Metapher benutzend habe ich meinen Figuren den Namen Gladiatoren gegeben. Man wird sehen, dass ihnen nichts fehlte, um diesen Namen zu verdienen.«
Über Guyetus, alias François Guyet (1575–1655), ist die größte Informationsquelle weiterhin I. Uri,
François Guyet
, Paris 1886. Bezüglich seiner Meinung, dass in die Texte der lateinischen Dichter unberechtigterweise eingegriffen worden wäre (unser störrischer Philologe glaubte tatsächlich, dass die erste der
Oden
von Horaz eine Fälschung war), ist der Klassiker von F. Gruppe
Minos. Über die Interpolationen in den römischen Dichtern
, Leipzig 1859, sehr hilfreich. Guyetus starb als Atheist, erzürnt über die letzten Sakramente, die ihm traditionell erteilt wurden.
|835| Die Bibel, von der Gabriel Naudé (1600–1653) eine Kopie nach Paris brachte, war die berühmte Mazarin, die diesem Kardinal gehörte und die heute in der Nationalbibliothek in Paris aufbewahrt ist. Der
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