Das Mysterium: Roman
und nicht wieder gerade zusammengewachsen.
»Seid Ihr wegen der Kätzchen hier? Sie sind alle verkauft, bis auf eines.«
Nun sah er, weshalb der Mund so seltsam nach innen fiel: Die alte Vettel besaß nur noch drei Zähne. Er sagte: »Ich suche die
Mutter eines Kammermädchens. Aber ich habe mich in der Straße geirrt.« Er lächelte. »Nichts für ungut.«
Da sagte die Frau: »Ich bin die Mutter eines Kammermädchens.«
»Eines kaiserlichen, meine ich.«
»Ist Adeline etwas zugestoßen?«
Das war Adelines Mutter? Er starrte sie an. »Ich … äh, ich muß sie sprechen. Sie ist nicht hier?«
»Kommt, tretet ein.« Sie hielt ihm die Tür auf.
Er betrat das Haus und sah sich um. Auf dem Tisch, der beinahe den ganzen Raum ausfüllte, lag ein flickenbesetztes Kleid,
dazu Zwirnrollen und ein kleines Stück Holz, in dem Nadeln steckten. Ein Bord an der Wand trug Zinnschüsseln, und zwischen
ihnen döste eine alte Katze. Da waren ein Bett und eine Kleidertruhe mit zerkratztem Deckel. Auf dem Boden spielte ein Kätzchen
mit einer leeren Zwirnrolle. Das war alles.
»Warum so erstaunt? Dachtet Ihr, daß hübsche Mädchen nur in reichen Familien geboren werden?«
Tatsächlich. Das hatte er gedacht. Hier war Adeline aufgewachsen? Er hatte sich ihre Kindheit so sauber vorgestellt! Er hatte
gedacht, sie sei von ihren Eltern umhegt und mit allem versorgt worden, was sie sich nur wünschen konnte, er hatte gedacht,
sie hatte nie etwas Böses gesehen oder gehört. Er mußte sich auf dem Tisch abstützen. Unbändige Zuneigung zu Adeline erfüllte
ihn, er liebte sie noch mehr, jetzt, da er wußte, wo sie herkam.
»Warum seid Ihr hier? Worüber wollt Ihr mit meiner Tochter sprechen?«
|317| Er sah sie an. War sie doch jünger, als er zunächst gedacht hatte? Ihre Augen waren die einer jungen Frau. »Ein Mann namens
Amiel von Ax stellt ihr nach. Er ist rücksichtslos.«
»Davon hat sie mir erzählt. Sie wollte die Stadt verlassen und nach Flandern oder England wandern. Da hab ich ihr geraten,
zum Kaiser zu gehen und sich über diesen Mann zu beschweren. Sie hat auch gesagt, daß sie das tut.«
Sie wollte nach England wandern? Wie verzweifelt mußte sie gewesen sein! Er hatte zu lange gebraucht, er hätte viel früher
in Amiels Kammer einbrechen sollen.
»Wer seid Ihr? Ihr habt Euch nicht vorgestellt.«
»Nemo heiße ich.« Er wollte diese Frau nicht belügen.
Sie legte ihm die Hand auf den Arm. »Ich bin froh, daß Ihr hergekommen seid, und glücklich, daß meine Tochter einen Freund
hat wie Euch.«
»Ich war am Kaiserhof. Dort weiß man nichts von ihr. Sie ist verschwunden.« Hatte sie noch einen Vertrauten? Zu wem würde
sie gehen? Wer konnte etwas über ihren Verbleib wissen? Die Gräfin vielleicht?
William Ockham! Er hatte ihr den Arm um die Schulter gelegt, wie um sie zu beschützen, damals, als Amiel von der Inquisition
festgesetzt wurde. »Ich weiß einen Mann, den wir fragen können.«
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Die erste Rede vor der Stadtbevölkerung stand bevor, sein Rückhalt im Volk würde auf die Probe gestellt werden, und alles,
an das er denken konnte, war das Mädchen. Adeline ging ihm nicht aus dem Kopf. Er stellte sich vor, mit ihr im Bett zu liegen
und zu flüstern bis in die Nacht. Er stellte sich vor, ihren Bauch zu streicheln. Er dachte an Küsse, lange Umarmungen, an
Wollust. Solange sie dort im Keller lag, war da nicht alles möglich? Konnte sie ihn nicht lieben lernen mit der Zeit?
Er war verdorben. Der Weg seiner Seele in den Himmel war zerstört. Wie sollte er Perfectus sein, wenn er doch fortwährend
an die Sünde dachte? Er war befleckt, unrein, unvollkommen! Es blieb nur eines: Zukünftig härter zu sich selbst zu sein. Diese
unzüchtigen Gedanken, die wie Ratten an ihm nagten, mußte er erschlagen. Er mußte sie mit der Mistgabel aufspießen. Sie an
die Wand schleudern und zerschmettern. Härte! Unnachgiebigkeit! Reinheit bis ins letzte!
Machte ihn nicht die Sünde stärker? Er erkannte, wie verabscheuenswürdig sie war, und deshalb wendete er sich angewidert von
ihr ab. Er trat geläutert aus dem Feuer. Er war noch weiter auf festem Grund gewandert, für immer. Das gefiel ihm: für immer.
Von nun an würde er nie wieder sündigen.
Sie gingen nicht den kürzesten Weg zum Marktplatz, nein, sie durchmaßen die Stadt, nahmen jede größere Straße. Man wich angstvoll
zur Seite, wenn er sich mit seinen Kuttenträgern näherte. Manche baten um einen
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