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Das Mysterium: Roman

Das Mysterium: Roman

Titel: Das Mysterium: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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des Karrens. Ringsum Hunderte. Sie plauderten miteinander, nur wenige sahen zu ihm herauf. Wie man
     Studenten gewann, das wußte er: Man brauchte eine interessante Quaestio, einen Beginn, der erstaunte und den Verstand herausforderte.
     Wie war es mit dieser Zuhörerschaft? Gütiger Gott, betete er, sei jetzt bei mir! Er holte tief Luft. Dann rief er: »Ihr seid
     des Todes!«
    Köpfe wendeten sich. Gespräche verstummten.
    Er rief noch einmal: »Ihr seid des Todes! Allesamt!«
    Es wurde vollkommen still. Er hatte ihre Aufmerksamkeit.
    »Ihr habt gelogen. Ihr habt gefälscht. Ihr wart ungerecht. Ihr habt gezecht und gehurt und gestohlen. Gott ist ein gerechter
     Richter, und seine Gesetze sind hart. Er verurteilt Euch zum ewigen Tod.«
    Sie blickten ihn an, als rede er in englischer Sprache.
    »Aber er möchte, daß Ihr lebt! Er liebt Euch. Deshalb rettet er jeden, der sich an Christus klammert. München ist eine Stadt,
     die zu Gott gehört. Ich weiß, daß Ihr Jesus Christus anbetet, daß Ihr ihm dankt für seine Rettungstat. Ihr seid des Todes,
     und doch seid Ihr gerettet.«
    Das Schweigen zerbrach in einem Durcheinander von Stimmen. Am Rande des Marktplatzes gingen die ersten. Andere stritten, schüttelten
     die Köpfe.
    »Ich bin William aus Ockham, ein Engländer, der am Hof Eures Kaisers Zuflucht gefunden hat. Die Kirche liebt mich nicht. Aber
     ich liebe sie. Ich betrachte mich nach wie vor als Minderen Bruder, als Franziskanermönch.«
    Sie hörten ihm nicht zu. Sie sprachen, gestikulierten.
    »Ein Mann versucht, Eure Stadt zu verderben«, rief er, »ein Mann namens Amiel von Ax.«
    Schlagartig war es wieder ruhig.
    »Ich bin hergekommen, um ihn herauszufordern. Aber er ist nicht erschienen. Urteilt selbst! Wer die Wahrheit spricht, kann
     offen und hörbar reden. Amiel hingegen versteckt seine Botschaft. Jesus sandte die Jünger aus, das Evangelium frei zu verkündigen;
     sie sollten seine gute Wahrheit über die Rettung |322| in alle Lande tragen. Der Perfectus predigt im verborgenen. Seine Verschlagenheit, seine Geheimniskrämerei – zeigen sie nicht
     deutlich, daß er dem Pfad des Lichts mißtraut?«
    Eine Gasse öffnete sich in der Menschenmenge, sie teilte sich wie ein Tuch. Am anderen Ende der Gasse stand Amiel von Ax.
     Er trug einen blauen Kapuzenmantel. Würdevoll schritt er die Gasse entlang, seine Bewegungen waren ein Fließen, und er hielt
     das Haupt gerade, den feinen schwarzen Bart, die angegraute Haarpracht. Er hatte keine Angst. Er kam mit der Ruhe des Siegers.
    Hinter Amiel gingen Männer in schwarzen Kutten. Als die Prozession den rechten Karren fast erreicht hatte, erkannte William
     auf den Kutten eine seidene Taube. »Ist das nicht die Taube des Heilig-Geist-Ordens?« fragte eine Frau, die in der Volksmenge
     vorn stand. Andere Münchner nickten. »Die sind doch damals verschwunden, die Chorherren«, sagte jemand. »Umgekommen!« sagte
     die Frau. Ein Krüppel, der sich auf zwei Krücken stützte, krächzte: »Vielleicht kümmern sich jetzt die Männer des Perfectus
     um uns, so wie die Chorherren früher.« Der Perfectus stieg auf die Ladefläche des zweiten Karrens, und seine Diener stellten
     sich um den Karren herum auf.
    Da erwachte in William eine Lust zu kämpfen. Dieser Unverschämte verbreitete Verderbnis und Lügen, und nun wagte er es, wie
     ein Rechtschaffener aufzutreten, würdevoll und selbstbewußt! Im Eckhaus warteten die Wachen des Kaisers auf sein Zeichen.
     Wenn er, William, meinte, daß er das Volk umgestimmt hatte, sollte er die Faust heben, und sie würden hervorbrechen und den
     Perfectus gefangensetzen. »Ich freue mich, daß Ihr gekommen seid«, sagte er, zu Amiel hingewandt, »denn ich muß Euch etwas
     fragen. Ihr lehrt, diese Welt sei von Satan geschaffen. Unsere Körper seien böse, sagt Ihr, Bäume und Gräser ebenfalls, und
     Tiere, Fische, Vögel. Die Heilige Schrift aber beginnt mit dem Bericht, wie Gott Bäume und Gräser schuf, Tiere, Vögel und
     uns. Sagt die Heilige Schrift nicht die Wahrheit? Oder hat Gott etwas Böses geschaffen?«
    |323| Der Perfectus lächelte. »Was Ihr zitiert habt, William, steht im Alten Testament. Das Alte Testament lehne ich ab. Für mich
     hat allein das Neue Testament Geltung.«
    »So? Ich bin erstaunt, das zu hören. Nun, dann nehmen wir eine Aussage des Neuen Testaments. Paulus schreibt im Brief an die
     Kolosser: ›Alles ist in ihm geschaffen, was im Himmel und auf Erden ist, das Sichtbare und das

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