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Das Mysterium: Roman

Das Mysterium: Roman

Titel: Das Mysterium: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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Segen. Heute kümmerte er sich nicht darum,
     er hörte niemanden an.
    Venk von Pienzenau beugte sich im Gehen hinüber und näherte seine pockige Nase. »Perfectus, ich denke, es ist eine Falle.
     Das ist ein Schauprozeß. Sie wollen uns vor allem Volk zerreißen.«
    |319| Natürlich, es gefiel dem Ratsherrn nicht, daß aus der Geheimwissenschaft eine öffentliche Kirche wurde. Er mochte das Verborgene,
     das Dunkle. Er mochte das Gefühl, den anderen Mächtigen der Stadt etwas vorauszuhaben, ein Wissen, das sie nicht besaßen.
     Aber die Pläne waren andere, und Venk hatte sich zu fügen. »Die Zeit ist reif. Das Volk ist bereit. Heute gründen wir die
     reine Kirche.« Aus den Fenstern sahen sie ihm nach. Sie traten aus den Ladengeschäften, grüßten ihn, indem sie ehrerbietig
     die Köpfe neigten.
    Venk fiel zurück zu den anderen Kuttenträgern. Dafür näherte sich von seiner Rechten Bartholomäus, der Schöne. »Sicher ist
     es eine gute Zeit, Perfectus. Der Bischof ist schwach, und der Inquisitor tot. Aber der Kaiser, meint Ihr, er wird stillhalten,
     wenn Ihr die Führerschaft übernehmt?«
    »Der Kaiser liegt im Streit mit dem Papst. Er wird sehen, daß ich das Volk in meiner Hand habe und daß hier eine neue Kirche
     entsteht, die ebenso gegen den Papst gerichtet ist. Er wird eine Zusammenarbeit mit mir anstreben. Sobald ich München führe,
     suchen wir nach anderen verborgenen Perfecti überall im Reich, ebenso in Kroatien und in Frankreich, und wir gründen die weltweite
     reine Kirche.« Sie näherten sich dem Marktplatz. »Jetzt macht Euch bereit!«
     
    Für eine Tribüne hatte die Zeit nicht gereicht. Er hatte auch keine Tribüne erwartet. Aber zwei plumpe Karren? William rieb
     sich den Nacken. Auf Ochsenkarren sollten Amiel von Ax und er steigen, um sich vor dem Volk zu streiten. Womöglich standen
     sie am Ende
beide
wie Trottel da. Vorausgesetzt, daß der Perfectus kam. Tauchte er nicht auf, stand nur er, William, wie einer, der den Verstand
     verloren hatte, auf einem Karren inmitten des Marktplatzes.
    Er ging auf den linken Karren zu. Das Volk erkannte ihn nicht, sie machten nicht einmal Platz. Den Anblick brauner Franziskanerkutten
     waren sie gewöhnt. »Verzeihung«, sagte er und schob sich an zwei Frauen vorbei. Hatte Gott für ihn heute eine Demütigung vorgesehen?
     Ihm wurde plötzlich bewußt, |320| daß es die Einwohner Münchens einen Dreck kümmerte, ob der nullte Längengrad westlich von Spanien lag oder mitten durch diese
     Stadt verlief, daß die wenigsten von ihnen überhaupt von der Ziffer Null gehört hatten, daß sie weder die Klimazonen der Erde
     kannten noch die zwölf Dialekte, die zur deutschen Sprache gehörten. Für sie zählte nur derjenige der Bayern. Alles, was er
     in seinem Leben durchdacht und niedergeschrieben hatte, war für sie vollkommen unwichtig. Sie interessierten sich nicht für
     äquivoke Zeichen, Obersatz und Untersatz oder die Bedeutung der Theologie. Wie sollte er sich ihnen verständlich machen?
    Er war nie überheblich gewesen, aber er hatte sich durchaus für wichtig gehalten. Nun schob er sich durch eine Menschenmenge,
     die in ihm nichts sah als einen verschrobenen Gelehrten. Wie hatte er sich einbilden können, daß er sie von Amiel losreißen
     konnte, durch Argumente, durch Worte?
    Es roch nach angebranntem Fleisch. Geschäftstüchtige Betreiber von Imbißbuden hatten ihre Eisenschalen mit glühenden Kohlen
     nahe der Karren aufgestellt. Männer und Frauen standen davor und aßen geschmorte Leber mit Apfelschnitzen. Andere drängten
     sich in die Nähe der Kohlenschalen, um sich zu wärmen.
    Er stieg die Stufen einer Hühnerleiter hinauf, die man an den Karren gelehnt hatte. Es ist nur die Angst, sagte er sich. Er
     fühlte sich ins Jahr 1321 zurückversetzt, zu dem Augenblick, als er ans Lehrpult trat, um seine erste Philosophievorlesung
     zu halten im Rahmen des Studium Generale der Franziskaner in London. Damals war er dreiunddreißig Jahre alt gewesen. Hatte
     er seitdem nichts dazugelernt? Doch. Er wußte inzwischen, daß man durch die Vernunft den Anstieg des Blutes zum Herz senken
     konnte. Er bemühte sich, ruhig zu atmen. Er dachte an die Schafe und Hecken der Grafschaft Surrey. Er dachte daran, wie klein
     er war im Vergleich zu Gott. Wenn er scheiterte, wenn er bloßgestellt war, dann war da immer noch der Schöpfer, der ihn liebte
     und dem das Urteil dieser Menschenmenge nichts anhaben konnte.
    |321| Er betrat die Ladefläche

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