Das Mysterium: Roman
das zugeschneite Feld zurück zur Straße. Schnee rutschte ihm in den Schuh. Bei jedem Schritt knirschte er unter
der Ferse und festigte sich allmählich zu einem harten Klumpen. Es waren die alten, kaputten Schuhe.
Was tue ich hier? dachte er. Er konnte doch schon auf halber Strecke nach Augsburg sein! Statt dessen war er auf dem Weg zurück
in die Stadt. Amiel würde Jagd auf ihn machen, womöglich lief er ihm geradewegs in die Arme. Aber der Perfectus hatte gesagt,
daß er von Adeline nicht lassen konnte. Sie war in Gefahr. Ohne Adeline floh er nicht. Sie hatten ihn im Stich gelassen, als
er klein und wehrlos war. Er wußte, wie es war, im Stich gelassen zu werden. Adeline brauchte seine Hilfe.
Er drehte sich um. Wer wollte, konnte mühelos seinen Fußspuren zur Mühle folgen. Andererseits, woher sollten Amiels Jünger
wissen, daß er ausgerechnet hier von der |312| Straße abgebogen war? Und selbst wenn sie die Mühle durchsuchten, sie würden das Versteck im Erdloch nicht finden. Die Schnabelschuhe
und der falsche Bart waren sicher im Topf, und auch das Lederbündel mit der teuren Kleidung, das er daneben in das Loch gezwängt
hatte, würde unentdeckt bleiben. Man würde den französischen Adligen und den Tagedieb nicht zusammenbringen.
Nemo ging an den Ochsenkarren und Handwagen vorüber, die sich vor dem Zöllnertisch am Stadttor aufreihten. Er passierte unbehelligt
die stoppelbärtigen Wachposten. Im Kaiserhof hatte man ihm gesagt, Adelines Mutter lebe in einer Kate nahe der alten Stadtmauer,
die Kate befinde sich in der Nähe der Seelfrauen von Sankt Christoph. Sicher war das Haus, in dem Adelines Familie lebte,
keine Kate. Menschen, die in kaiserlichen Diensten standen, bezeichneten ein Haus schon als Hütte, wenn es nur über ein Stockwerk
verfügte, mochte es auch noch so stattlich gemauert sein.
Eine Wechselstube! Er blieb stehen. Es würde nicht lange dauern. Er klopfte an und trat ein. Ein junger Mann saß vor einem
Rechentisch. Er trug mit der Feder Zahlen in eine Liste ein, sah nur kurz auf, musterte Nemo und blickte dann zurück auf seine
Rechenpfennige, deren angezeigten Betrag er notierte. »Guten Morgen, sei gegrüßt«, murmelte er, »wie kann ich helfen?«
»Ihr seid Geldverleiher?«
»Wir stellen Wechsel aus, unterstützen Kaufleute mit größeren Geldbeträgen, tauschen ausländische Währungen.« Der junge Mann
sprach, ohne Nemo anzusehen. Er schob einige Rechenpfennige auf dem Strich nach links, der die Tausender bezeichnete. Offenbar
rechnete er gerade einen hohen Betrag aus. »Du willst einen Kredit? Wende dich an die Juden am Marktplatz. Unsere Bank ist
nicht der richtige Partner für dich.«
Noch vor einer Stunde hätte der Mann vor ihm gebuckelt. Aber die Schabelschuhe und das goldbestickte Jaquette lagen in der
Mühle, er trug nur noch ein einfaches Hemd. Er mußte |313| aufpassen. Wenn er nicht klug vorging, hielt ihn der Kerl für einen Dieb und hetzte ihm die Stadtbüttel auf den Leib. Eine
Verwandlung mußte her, und zwar ohne Unterstützung durch Kleider.
Der Mann ritzte etwas in ein Wachstäfelchen und schob noch einige Rechenpfennige. Dann tunkte er die Feder ins Tintenfaß und
schrieb eine weitere Zahl in die Liste. Er blickte auf. »Du bist noch hier?«
Nemo stellte sich innerlich um. Seine Schultern strafften sich, er richtete sich auf. Sein Gesichtsausdruck änderte sich,
er lächelte herablassend. »Wie es scheint, tut meine Verkleidung ihren Dienst.« Seine Stimme klang voller, selbstsicherer.
Die Verwandlung gelang. Er glühte innerlich.
»Verkleidung? Wie meinst du das?«
»Eine längere Geschichte, die Euch langweilen würde. Ich bin nicht hier, um Euch meine Reise und die Beweggründe darzulegen.
Seid Ihr bereit, mir in bezug auf ein Bankdokument weiterzuhelfen, oder nicht?«
Der junge Mann sah ihn verwirrt an. »Selbstverständlich. Ich will gern sehen, was ich für Euch tun kann. Worum geht es?«
Da war es also, das Euch. Und er hatte noch nicht einmal das Pergament vorgelegt. Nemo griff sich unter das Hemd und zog das
halbe Dokument hervor. Er legte es auf den Rechentisch.
Der Mann griff danach. »Ein
Depositum
.« Er las, schürzte die Unterlippe und nickte anerkennend. »Die
Compagnia
des Tommaso di Arnolfo aus Florenz. Sie hat einen ausgezeichneten Ruf. Unterhält Banken in vielen großen Städten Italiens,
Frankreichs und des Kaiserreichs. Leider nicht in München. Aber in Frankfurt könnt Ihr einen
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