Das Mysterium: Roman
genau. Die Härte des Perfectus gefiel ihnen, sie wirkte überzeugender, weil sie Klarheit
bedeutete. Was konnte er ihr entgegenhalten? Es mußte aus dem Neuen Testament sein, das Alte wischte der Perfectus mit einer
Armbewegung fort.
Der Brief an die Römer fiel ihm ein, Kapitel sieben:
non enim quod volo bonum hoc facio sed quod nolo malum hoc ago.
Er sagte zur Menge hin: »Ihr wählt diesen, der ein Heiliger sein möchte, und werft alle anderen Heiligen über Bord, denen
Ihr doch zeit Eures Lebens nachgefolgt seid? Was ist mit Paulus? Im Brief an die Römer schrieb er: ›Das Gute, das ich will,
das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich. Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen?‹ Paulus kannte
Eure Verzweiflung! Auch er hatte ein Gewissen, das ihn verurteilte, wieder und wieder. Wollt Ihr wissen, wie er Freiheit erlangt
hat? Er schreibt im selben Brief: ›Wer will die Auserwählten Gottes beschuldigen? Gott ist hier, der gerecht macht. Wer will
verdammen? Christus ist hier, der gestorben und wieder auferstanden ist.‹ Euer guter Gott hat die Strafe getragen, die Todesstrafe
wurde an ihm selbst vollstreckt! Ihr seid freigekauft! Bleibt bei den Königstreuen.«
Amiel lachte lauthals. »Glaubt Ihr ihm?« fragte er. »Denkt einmal nach. Welcher Gott würde sterben, wenn er es doch |326| viel leichter haben kann? Gott ist allmächtig, das wissen wir. Also kann er auch jeden von uns fähig machen, die Sünde abzustreifen
und fehlerfrei zu leben. Warum sollte er das nicht tun? Er muß keine Strafe tragen, und schon gar nicht sterben. Er hilft
Euch, jegliche Bosheit von Euch zu werfen und ein reines Kind zu werden, das den Weg zum Himmel allein schafft. Werdet wie
die Kinder! Rein und frei!«
Die Münchner jubelten. Sie tanzten, jauchzten. Wie Meereswogen ging es über die Menschenmenge hinweg.
Sein Gegner demütigte ihn. Er mußte sich aufbäumen, er durfte nicht aufgeben! Eine Frage gab es, die Amiel womöglich zu Fall
bringen konnte. Jede Antwort darauf kam ihn teuer zu stehen. »Amiel, habt Ihr den Inquisitor getötet?« William musterte den
Großgewachsenen. Antwortete er mit Nein, dann verlor er den Nimbus, den ihm die Gerüchte verliehen, er habe Vizenz mit magischen
Kräften in eine Eissäule und hinterher in einen schwarzen Leichnam verwandelt. Antwortete er mit Ja, dann bekannte er sich
des Mords für schuldig.
Die Menschen wurden ruhig. Sie sahen gespannt auf den Perfectus und warteten.
»Mischt Euch nicht in Gottes Urteile ein«, sagte Amiel. Dann rief er: »Die Priester mit ihren Chorhemden und edelsteinbesetzten
Goldringen, sie sind reißende Wölfe, die Euch verführen wollen. Manche von ihnen sind so unverfroren, daß sie öffentlich heiraten!
Ihre Lieder und Gebete sind nur Blendwerk, die Messe soll den Gläubigen das Gold aus der Tasche ziehen, nichts weiter. Fortan
sollt Ihr keinen Zehnten mehr an die Kirche Satans zahlen. Und wenn Euch Kirche oder Kaiser weismachen wollen, daß Ihr Euch
der Macht des Bischofs und den alten Lehren unterwerfen müßt, dann bewaffnet Euch mit Zaunlatten, mit Sensen, mit Mistgabeln,
und kämpft um Eure Seelen! Ich werde Euch anführen.«
Erneut brandete Jubel auf. »Der Perfectus führt uns!«
»Nie wieder Abgaben an die Kirche!«
»Vertreibt die Priester!«
|327| »Gott segne den heiligen Amiel!«
Was versuchte er hier? Das war offener Aufruhr! William rief, so laut er konnte, um die Menge zu übertönen: »Niemals ist München
mit Waffengewalt erstürmt worden. Friedrich konnte die Stadt vor achtzehn Jahren nicht erobern, Leopold von Österreich konnte
sie mit seiner Belagerung vor fünfzehn Jahren nicht brechen, und das Heer Heinrichs von Niederbayern ist vor drei Jahren an
unserem Widerstand gescheitert. Lassen wir uns jetzt von einer Irrlehre niederstrecken?«
Die Menge rannte gegen Amiels Karren an, Hände streckten sich nach ihm aus. »Segne uns! Segne uns!«
Und er segnete sie. »Gott befreie Eure Seelen, er helfe Euch, das Fleisch zu besiegen.« Dann rief er ihnen zu: »Ge horcht den Geboten Gottes und haßt diese Welt!«
William war sich plötzlich sicher, Donnergrollen zu hören. Aber der Himmel war nur zart bewölkt, es sah nicht nach einem Gewitter
aus. Außerdem ebbte das Grollen nicht ab, wie es sonst bei einem Gewitter geschah. Statt dessen wurde es lauter, es klang
wie das Heranrollen eines Heeres, wie eine Schlachtreihe schwerer Reiter, die sich über einen
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