Das Mysterium: Roman
Früchte, Gewürze und Seide. Ich frage noch
einmal: Ist das Trockengut?«
»Es sind gegerbte Rinderhäute.«
|37| »Also Trockengut. Du zahlst einen Pfennig je zwei Stück.«
»Räubergesindel!«
Der Fremde sagte: »Hier entlang. Sie machen eine Bahn fürdas Fußvolk.« Er schob Nemo an den Karren und Wagen vorüber durch
das Tor.
Sie passierten das Gelände des Heilig-Geist-Spitals. Bis zum Stadtbrand vor neun Jahren hatten zu ihrer Linken die Gebäude
des Spitalordens gestanden. Er achtete genau auf die Füße des Fremden. Hielt er inne? Sah er sich um? Wußte er, wo die Chorherren
gelebt und gearbeitet hatten? Der Fremde lief ohne erkennbares Zögern weiter. Er fragte nicht, warum man hier neue Häuser
errichtet hatte.
Dort war das Tor gewesen mit dem Wappen des Ordens, dem zwölfspitzigen Doppelkreuz und der Taube. Aus diesem Tor waren die
Chorherren getreten in ihren himmelblauen Kutten mit dem weißen Doppelkreuz auf der Brust und waren losgezogen, um Kranke
in ihren Häusern zu besuchen.
Andere blieben im Spital, bei den Irren, die durch ihre Räume krochen, den Kranken und Pilgern, die ein Bettlager und Brot
brauchten. Findelkinder schrien. Sie wurden von Laienschwestern gefüttert. Am Sonntag wurde Konventamt gehalten im Krankensaal.
Häufig gab es Bestattungen, die der Ordensmeister abhielt. Die Schwerkranken lebten nicht lange.
Das Spital gehörte zur Provinz
Alemannia Superior
, einmal im Jahr, zu Pfingsten, reiste der Meister zum Ordenskapitel, zur großen Versammlung des Heilig-Geist-Ordens, und
traf sich dort mit Brüdern von San Michele und Montpellier und Stephansfeld und anderen Spitälern. Es gab eine Schwierigkeit,
die er mit ihnen besprechen mußte: Der Rat der Stadt München begann sich in die Verwaltung des Spitals einzumischen. Das war
die Sorge, die ihn nach außen hin belastete. Alle schienen es zu glauben. Nemo aber wußte, daß es eine Maske war. Er kannte
Masken wie kein zweiter.
Der Meister trug ein Geheimnis in sich. Er empfing seltsame Besucher, tauschte Nachrichten mit ihnen aus. War der Fremde womöglich
nicht wegen ihm, Nemo, gekommen, |38| sondern tatsächlich auf der Suche nach dem Meister? Das mußte es sein. Er suchte den Meister, er war einer der Männer, die
der Meister von Zeit zu Zeit empfangen hatte. Nun, er kam um Jahre verspätet. Der Meister war tot, und das Geheimnis war mit
ihm gestorben.
»Links«, sagte Nemo. Sie bogen zum Rindermarkt ein. Prächtige Bauwerke säumten den Platz. Ratsgeschlechter hatten hier ihre
Wohnstatt, Adelsfamilien und Angehörige des Kaiserhofs. Die Häuser waren mit Schmuckfarben und goldenen Mustern verziert.
Ein Dienstbote kehrte vor einer Eingangstreppe. Er war besser gekleidet als mancher gute Bürger.
Der Gasthof. Nemo blieb stehen. »Da wären wir.« Ein feiner Messinghirsch hing als Wahrzeichen an zwei Ketten über der Toreinfahrt.
Im Hof hörte man Pferde wiehern. »Soll ich die Kiste aufs Zimmer tragen?«
»Nein. Setze sie in der Einfahrt ab. Die Knechte des Gasthofs können den Rest erledigen.«
Er schleppte die Last weiter. Unter dem Gewölbe der Einfahrt ging er in die Knie, ließ die Kiste den Rücken hinunterrutschen
und setzte sie ab. Er stand auf. Wie leicht das doch ging ohne Gewicht auf dem Rücken! Vorsichtig streckte er sich. Kein Knacken
war zu hören, nur die Muskeln zerrten schmerzhaft.
Der Fremde zählte ihm drei Pfennige in die Hand. Ein guter Lohn. Dafür bekam man einen Halbpfünder besten Neckarweins und
eine warme Mahlzeit. Auf den Wein würde er verzichten, um wieder etwas Geld zu sparen. »Ich danke Euch«, sagte Nemo.
Der Fremde drückte vor seinem Bauch die kleinen Finger aneinander. Es währte nur einen kurzen Augenblick, dann war es vorüber.
Nemo stockte. Er sah dem Fremden ins Gesicht. Die grünen Augen waren nicht mehr die eines Menschen, es waren Geisteraugen.
Es waren die Augen des verstorbenen Ordensmeisters. Keine Frage war in ihnen. Der Fremde wußte, daß der Meister tot war, er
wußte, daß die Gebäude des Ordens niedergebrannt waren und an ihrer Stelle |39| neue standen. Er kannte das geheime Handzeichen des Meisters, und er hatte es Nemo gezeigt. Für ihn gehörte Nemo zum Bund
der Geheimnisträger.
Der Fremde durchschaute Nemos Lüge. Er war wegen ihm gekommen.
»Geh jetzt«, sagte er kalt. »Ich finde dich, wenn ich dich brauche.«
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Der Kaiserhof lag auf einem leichten Hügel im Osten der Stadt. Man hätte
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