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Das Mysterium: Roman

Das Mysterium: Roman

Titel: Das Mysterium: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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Der
     Kaiser würde liebend gern seinen berühmten Gelehrten den Gästen vorstellen. Aber William Ockham ist nicht gekommen, nicht
     einmal dem Wunsch des Kaisers leistet er Folge. Er hat nichts für Feste übrig. Er kennt nur seine Bücher. Selbst Kaiser Ludwig
     muß das hinnehmen. Wenn die Tür verschlossen ist, hat jedermann William Ockham in Ruhe zu lassen. Und seine Tür ist nahezu
     immer verschlossen. Geht, sagt das Eurem Herrn.«
    »Mich hat niemand geschickt. Ich bin nur hier, um dem Gelehrten eine Frage zu stellen. Wo finde ich ihn?«
    |45| Nun kniff der Doktor die Augen zusammen. Er hatte fast keine Brauen. Es gab seinem Gesicht das Aussehen eines uralten Säuglings.
     »Ihr seid doch nicht aus dem päpstlichen Lager? Es gibt einige, denen William Ockham tot lieber ist als lebendig.«
    »Ich bin Student der Rhetorik.« Zu lügen hatte ihn noch nie Anstrengung gekostet. »Ich bin aus Bologna angereist, weil ich
     William Ockham in einer schwierigen Frage um Rat bitten möchte. Mir ist bewußt, daß viele zu ihm kommen und daß er wenig Zeit
     hat. Aber vielleicht wird er mir weiterhelfen. Kann ich es nicht wenigstens versuchen? Ich möchte nicht umsonst die weite
     Reise gemacht haben.«
    »Ich glaube Euch«, sagte der Doktor, »aber seid dessen versichert, es ist zwecklos. Er ist für niemanden zu sprechen. Er sucht
     sich selbst aus, wen er sehen möchte. Ihr müßt die Erfahrung selbst machen, sonst glaubt Ihr mir nicht. Geht in den Ostflügel,
     dort durch die Tür unter der Sonnenuhr, und die Treppe hinauf.«
    Nemo verschwendete keine Zeit mit einem Dank. Er überquerte den Hof. Aus dem Augenwinkel sah er einen Schatten auf sich zurasen,
     versuchte auszuweichen. Erfolglos. Kleine Hände krallten sich in seinen Ärmel, und von einem Augenblick auf den nächsten hing
     das Gewicht eines dicklichen Jungen an seinem Arm.
    »Spiel mit uns!« rief der Junge. Weitere Kinder kamen herbeigesprungen. Die Kleider der Mädchen, die Röcke der Jungen waren
     von kostbarem Atlas, Barchent, Brokat, Damast geschneidert, grün und weiß und blau und purpurn und braungestreift. Der dicke
     Junge sagte: »Ich befehle es! Ich bin Wilhelm, mein Vater ist der Kaiser der Welt! Du mußt mit uns spielen. Sonst hängt er
     dich auf.« Unerbittlichkeit stand dem Buben ins Gesicht geschrieben.
    »Habt Ihr denn kein Höflinge, die Euch dienen, Prinz Wilhelm?«
    Der Kleine stampfte mit dem Fuß auf, ohne Nemos Arm loszulassen. »Natürlich habe ich Höflinge.«
    |46| »Und keine Spielgefährten?«
    »Schau doch hin! Das sind alles meine Spielgefährten, und ich kriege noch mehr, wenn ich will.«
    »Wozu braucht Ihr dann mich?«
    »Du bist unser Gefangener!« Unter Johlen und Pfeifen stießen ihn die Kinder zu den vermoosten Fundamentresten des ehemaligen
     Bergfrieds. Sie sprangen auf die Mauerstümpfe, schlugen Nemo ins Genick, zogen ihn an den Haaren. Die Lage wurde ernst. Schon
     sahen die Hofbeamten herüber, die Gäste des Festes. Der Hofmeister kam vom Tor her, die Hände energisch zu Fäusten geballt.
    »Mein Wille ist gebrochen, ich gebe mich in Eure Hand«, rief Nemo. »Ich verrate mein Geheimnis! Aber nur Ihr dürft es hören,
     Prinz Wilhelm.«
    Die Augen des Prinzen leuchteten.
    Nemo ging in die Hocke und flüsterte ihm ins Ohr: »Ich bin ein Spion des französischen Königs. Das ist der Grund, weshalb
     Ihr mich noch nie hier gesehen habt. Wenn Ihr mir helft, dann nehme ich Euch mit in ferne Länder zu prächtigen Königshöfen.«
    »Est-ce que tu parles français?«
    »Ich spreche kein Französisch«, sagte Nemo laut. Er flüsterte: »Wollt Ihr mich vor allen Hofbeamten bloßstellen? Mein Geheimnis
     ist so groß, daß es mich den Hals kosten kann! Seht Ihr nicht, wie sehr ich Euch vertraue?« Er zog am Lederband die Münze
     hervor. »Nehmt dies zum Beweis meiner Herkunft.«
    Die Münze war das Kostbarste, was er besaß. Das einzige, das ihn mit seiner Herkunft verband. Es war ein Gros Tournois, ein
     französischer Schilling. Wie oft hatte er ihn betastet, ihn in den Fingern gedreht! Eine Burg auf der Vorderseite, mit der
     Umschrift TVRONVS CIVIS, die Burg Tournois. Sie war umgeben von zwölf Lilien, die den Wert der Münze anzeigten: zwölf Deniers.
     Auf der Rückseite ein Kreuz und der Name des französischen Königs, Philipp. Er habe den Gros Tournois im Händchen gehalten,
     hatte der Ordensmeister gesagt, fest im |47| Händchen, als man ihn vor dem Klostertor fand, und natürlich habe man sich nicht an dem

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