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Das Mysterium: Roman

Das Mysterium: Roman

Titel: Das Mysterium: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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ihn für ein gewöhnliches Gehöft inmitten Münchens
     halten können. Wären da nicht die hohe Mauer und der Wassergraben gewesen, die ihn umgaben, und das kaiserliche Wappen über
     dem Tor sowie die Männer, die das Tor bewachten und gelbe Waffenröcke trugen, auf denen der Reichsadler prangte. Auch ragten
     die Häuser des Kaiserhofes höher hinauf als die sie umgebenden Gebäude. Man hörte von Zeit zu Zeit das Brüllen eines Löwen
     und kurz darauf das wütende Gekreische von Affen.
    Hier lebte der Herr des Kaiserreichs, der Mann, der Land und Wasser von den Meeren im Norden bis nach Italien beherrschte,
     dem alle Welt untertan war. Hier lebte Kaiser Ludwig mit seinem Hofstaat. Der Kaiserhof war die höchste Herausforderung. Nur
     zweimal hatte Nemo es gewagt, hier einzudringen. Aber er brauchte Antworten. Er mußte wissen, wer der Mann war, der ihn ausfindig
     gemacht hatte.
    Hufschlag näherte sich. Nemo drückte sich gegen die Hauswand und preßte den Korb mit Broten an die Brust. Im Mund bewegte
     er den Ring, den er einem Silberschmied abgeschwatzt hatte, um ihn angeblich seiner Geliebten im Schlaf anzuprobieren. Reiter
     zügelten neben ihm ihre Pferde und saßen ab. Aus dem Tor eilten ihnen Knechte entgegen. Sie nahmen die Pferde an den Zügeln
     und führten sie zum Stallgebäude gegenüber dem Kaiserhof. Die Reiter traten währenddessen zum Tor.
    Einer von ihnen trug eine schimmernde Mütze aus Atlas. Nie würde Nemo sein Gesicht vergessen, die pockige Nase, den herrischen
     Mund mit den eingekniffenen Ecken. Venk von Pienzenau war reich geworden durch den Fernhandel mit |41| Seidenstoffen, schwerem Tuch und Fardelbarchent. Jedes Fleckchen Haut, jede Bewegung der von goldenen Ringen beschwerten Hand,
     jeder seiner Wimpernschläge verkündete seinen Reichtum. Er war Gesellschafter der Handelsgemeinschaft Wadler. Er hatte großen
     Einfluß auf den Kaiser. Nemo hätte damals sein Gespür nicht unterschätzen dürfen. War es ein Fehler, auf das Fest zu gehen?
     Würde man ihn erkennen?
    Er löste sich von der Hauswand, querte den Wassergraben über die kleine Brücke und trat vor das Tor. Er setzte das müde Gesicht
     eines Gehilfen auf, der schon seit dem ersten Hahnenschrei auf den Beinen war. »Eine Lieferung des Bäckers Thiene«, sagte
     er. »Für das Fest.«
    Eine der Wachen trat an ihn heran und hob das Tuch von seinem Korb. Duftende, frische Brote lagen darin, aus bestem Weizenmehl
     gebacken. Der Wachmann winkte ihn durch. Obwohl Nemo gut vorbereitet war, kostete es ihn Mühe, das Herz ruhig schlagen zu
     lassen, bedächtig zu atmen, nicht nach Fluchtmöglichkeiten Ausschau zu halten. Er war Bäckereigehilfe, er lieferte den ganzen
     Tag Backwaren an Reiche und Mächtige aus. Der Kaiserhof durfte ihn nicht schrecken. Nemo trat durch den Torbogen.
    Zuerst kam der Garten. Walnußbäume standen hier und Birnbäume, die mit ihren glänzenden, tiefgrünen Blättern jeden gewöhnlichen
     Baum häßlich erscheinen ließen. Rotbackige Kugeln hingen im Gezweig der Apfelbäume. Zwischen Heiderosenbüschen ergingen sich
     Frauen und Männer in rubinroten, grasgrünen, purpurroten, veilchenfarbenen Gewändern, die Frauen mit feinen Schleiern verziert,
     seidene Perlenbänder im Haar. Ihre Röcke schleiften über den Boden. Um die Hüften trugen sie mit Silber beschlagene Gürtel.
     Jede der Frauen sah wie eine Königin aus. Auch die Männer trugen goldene Armreife, und an ihren Hemden blinkten Knöpfe.
    Nemo passierte das zweite Tor und trat in einen von Gebäuden gesäumten Hof. Was draußen karge, harsche Wände waren, die Unnahbarkeit
     ausstrahlten, vielgeschossige Häuser mit zahllosen Fenstern – drinnen war es schiere Pracht. Die Hofwände |42| der Häuser waren mit bunten Mustern bemalt. An einer Wand prangte übergroß das Kaiserwappen: ein schwarzer Adler mit weißblauem
     Herzschild, umgeben von Gold.
    Bestien betrachteten ihn aus kleinen Augen, sie liefen rechts und links des Tors in Käfigen auf und ab. Mähnen schmückten
     ihre Köpfe. Die Pranken setzten sie bedächtig auf den Boden, lautlos.
    Auf dem Dach des Brunnens inmitten des Hofs hockten weitere fremdartige Kreaturen. Sie sahen aus wie Menschen, aber sie waren
     behaart am ganzen Körper, und ihre Gesichter waren zerfurcht wie die von Greisen. Mit langen Fingern hielten sie sich am Dachfirst
     fest. Statt in Füßen endeten ihre Beine in einem weiteren Paar Hände. Sie schürzten die Lippen, bettelten, und zwei kichernde
    

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