Das Mysterium: Roman
ich knote ein Seil an diese Zinne, dann könnt Ihr daran
runterklettern.«
»Vater schafft das nicht«, sagte Mathilde. »Seht Ihr nicht, wie schwach er auf den Beinen ist?«
Der Wächter rieb sich mit dem Unterarm das Kinn. »Dann knoten wir ihn fest und lassen ihn ab.« Er legte Vater das Seil um
und machte einen Knoten.
»Hält der?« fragte sie. »Seid Ihr sicher?«
Der Wächter zog kräftig daran. Ein Ruck ging durch Vaters Körper. »Ja«, sagte er, »der Knoten hält. Nun ist es an Euch, Kaufmann
Neuhauser.«
Vater nickte. »Helft mir«, sagte er und machte Anstalten, zwischen zwei Zinnen auf die Mauer zu klettern. Sie halfen ihm hoch.
Er ging zwischen den Zinnen in die Hocke und sah hinab. Seine Fußknöchel glänzten, sie waren weiß von Eiter.
Der Wächter stemmte sich gegen die Mauer und faßte das Seil. Mathilde beugte sich neben Vater über die Mauer. Sie wollte sehen,
was er sah. Es war grauenvoll. In diese Tiefe sollte er springen und auf den unbekannten Mann vertrauen? »Willst du das wirklich
tun? Was, wenn er dich nicht halten kann? Oder wenn der Knoten sich öffnet?«
»Kind, ich bin aus dem feuchten Turmverlies entkommen. Lieber zerschelle ich am Fuß der Mauer, als daß ich in dieses finstere
Loch zurückkehre. Haltet mich nur gut fest. Hilf dem Wächter.«
Sie gehorchte. Hinter dem Wächter griff sie das Seil und umklammerte es, so fest sie nur konnte. Vater setzte sich auf den
Rand der Mauer. Dann ließ er sich hinunter. Augenblicklich rutschte das Seil an seinem Körper hoch, bis es in den Achseln
hängenblieb. Kurz darauf war nur noch Vaters Kopf zu sehen über dem Mauerrand. Der Wächter ächzte. Er ließ ein wenig Seil
nach, und Mathilde merkte, daß sie das Gewicht |334| des Vaters allein nie und nimmer halten konnte. Was der Wächter nachließ, rutschte ihr sogleich zwischen den Fingern hindurch,
sie war machtlos dagegen.
Bald begann sie zu schwitzen. Auch der Wächter keuchte. »Himmel und Hölle!« fluchte er. Sie sah hinter sich. Das Seil war
beinahe aufgebraucht. Wenn Vater nicht bald auf dem Boden aufsetzte, was dann? »Jetzt haltet doch auch einmal ein wenig Gewicht,
Herrgottnocheinmal!« schimpfte der Wächter. »Mir reißen gleich die Arme aus!«
»Ich – tue – was – ich kann«, ächzte sie. Da, endlich, ließ das Gewicht nach. »Ist er auf dem Boden?«
Der Wächter trat an die Mauer heran. »Ja, er ist unten. Hoffentlich ist er klug genug, sich loszubinden, sonst landet Ihr
in seinem Gesicht.« Er nahm ihr den Rest des Seils aus der Hand und schlang es um eine Zinne.
»Ich weiß nicht, ob ich das jetzt noch kann«, sagte sie. Ihre Arme zitterten vor Überanstrengung, und die Hände waren schweißnaß.
Wenn sie am Seil hing und sich nicht halten konnte, war das ihr Todesurteil.
»Wollt Ihr hier oben bleiben?«
Das wollte sie nicht. Sie mußte hinunter zu ihrem Vater. Mathilde kletterte zwischen den Zinnen auf den Mauersims und sah
hinab. Ihre Fingerspitzen kribbelten. Im Bauch zog es flau. Es war, als würde die Tiefe sie hinabzwingen, als zöge sie an
ihr, um sie hinunterzureißen. Hastig griff Mathilde nach dem Seil.
»Umklammert es mit den Beinen«, sagte der Wächter. »Schnell. Da ist Licht im Turm. Ich glaube, es kommt jemand.«
Sie faßte das Seil, so fest sie konnte, und rutschte über die Kante. Nun hing sie über dem Abgrund. Sie atmete in Stößen.
Vorsichtig ließ sie sich ein Stück hinunter, packte sofort wieder zu. Ihre Arme bebten. Sie versuchte, das Seil mit den Füßen
zu umfassen. Sie hörte Stimmen über sich. Sie mußte fort hier, nur fort!
In großen Schwüngen rutschte sie abwärts. Die Handflächen |335| brannten. Auch die Ärmel ihre Kleides hitzten sich auf am Seil. Als sie fast unten war, sagte der Vater: »Vorsicht! Ich habe
den Knoten nicht aufgekriegt. Tritt mir nicht in den Bauch.«
Sie ließ das Seil mit den Füßen los, trat kurz auf Vaters Schultern und sprang zu Boden. »Warte, ich helfe dir mit dem Knoten.
Wir müssen weg. Oben ist jemand.« Es raschelte im Feld. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie sich die Ähren teilten, wie etwas
aus der Finsternis auf sie zukam, ein wildes Tier, ein Schatten. Sie sprang auf. »Achtung!«
Es war ein Kind. Der flachsblonde Junge war es. »Ich sollte hier auf Euch warten.«
»Wer hat das gesagt?« fuhr sie ihn an.
»Der Alte.«
Dieser verlogene Rotzbube. Er wollte sie ans Messer liefern! Mathilde schnellte vor und packte ihn im Genick. »Sag
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