Das Mysterium: Roman
Hügelkamm ergoß.
Spitze Schreie wurden laut. Aus der Schwabinger Straße kamen Männer, Frauen und Kinder gerannt, sie schrien etwas, das er
nicht verstand. Die Menschenmenge kam in Bewegung, sie strebte auf die Ausgänge des Marktplatzes zu, Sendlinger Straße, Rindermarkt,
Augsburger Straße. Aber es waren zu viele, die Flüchtenden verstopften die Durchfahrten zwischen den Häuserzeilen. Menschen
wurden erdrückt, umgestoßen, niedergetreten.
Das Grollen kam aus der Schwabinger Straße, unverkennbar. William sah angestrengt auf die Straßenmündung. Immer noch flohen
Menschen heraus. Da strömten Ritter aus der Straße auf den Marktplatz, ein Heer von Rittern mit Fahnen. Kettenhemden blitzten,
lange Schwerter gleißten, die Ritter trugen Lanzen mit farbigen Bändern, als zögen sie in den Krieg.
|328| Inmitten der Gerüsteten ritt ein Mann in weißem Habit. Von den Schultern hing ein schwarzer Mantel herab, er reichte bis über
die Kruppe des Pferdes. Das Gesicht des Mannes war zur Hälfte von rotem Narbenfleisch verformt. William begriff: Der Weise
Weiße war gekommen, der unnachgiebigste, grausamste Inquisitor des Reichs.
|329| Sommer 1356
»Er hat dich verurteilt.« Mathilde starrte in die Dunkelheit. »Diesen Mann haben sie geholt, um dich zu verurteilen.« Es war
Nacht geworden, durch die Ritzen der Klappe drang kein Licht mehr in den Kellerraum. »Ist er noch in der Stadt?«
»Mit Sicherheit. Ich vermute, daß er hinter meiner Befreiung steckt.«
»Der Inquisitor, der dich in den Kerker werfen lassen hat, hat dich auch wieder herausgeholt? Das ergibt keinen Sinn.«
»Es ergibt durchaus Sinn. Ich werde es dir zeigen, noch heute nacht.«
»Woher weißt du, daß der Kerkermeister nicht zu Amiel gehört? Er kannte das geheime Handzeichen. Und er hat diesen grausigen
Gruß gesprochen.«
Der Vater stützte sich auf Mathildes Schulter und erhob sich mühevoll. »Komm.«
Mit ihrer Hilfe stieg er die Treppe hinauf. Sie reckte die Hand nach oben, um die Klappe zu öffnen. Zögerte. »Meinst du, die
Hatz nach dir ist schon zu Ende?«
»Es hat nie eine Hatz gegeben.«
Mathilde öffnete die Klappe, half ihm heraus. Mißtrauisch sah sie sich auf dem Hinterhof um. In den Hütten brannte kein Licht,
die Knechte und Tagelöhner schliefen. Über der Sickergrube kreisten Fliegen, das häßliche Summen war in der Nacht noch lauter
als am Tage. »Aber er mußte die anderen Wachen ablenken«, flüsterte sie, »wozu war das nötig, wenn du gar nicht verfolgt wirst?
Wozu der Junge, der vorgegeben hat, Amiel gesehen zu haben?«
Vater drückte ihr die Hand auf den Mund. Er näherte sich ihrem Ohr und raunte: »Kein Wort mehr, bis wir aus der Stadt sind!
Ich rede, du schweigst.« Er hakte sich bei ihr unter. »Los.«
|330| Im vorderen Hof hing noch die Wäsche an der Leine. Vor dem Garten lag eine zurückgelassene Hacke. Sie traten unter den Torbogen.
Es war finster, das Tor war geschlossen. Mathilde betastete es. Sie fand den Riegel. Das kühle Eisen war rauh von Rost. Sie
zog den Riegel auf und öffnete das Tor. Leise quietschten die Angeln.
Vater setzte Fuß vor Fuß. Sie waren zu langsam, wenn man ihnen nachkam, würden die Verfolger sie mit Leichtigkeit einholen.
Konnte sie ihn im Notfall tragen? Er wog nicht mehr viel. Trotzdem würde sie nicht rennen können.
Sie passierten eine Reihe von Krämerläden, Geschäfte, in denen sie Bürsten, Seife, Küchengerät gekauft hatte, auch Pergament
und Daunenfedern für Kissen. »Zum Sendlinger Tor, richtig?« Sie konnte es nicht ertragen zu schweigen.
»Nimm Abschied, bis wir dort sind. Du wirst München nie wiedersehen.«
»Was wird aus den Zwillingen?«
»Laß das meine Sorge sein. Jetzt schweig.«
Vertraute sie dem Richtigen? Wenn er sich so oft verstellt hatte, wenn er sogar die Inquisition täuschen konnte, wie konnte
sie wissen, daß der Vater sie nicht genauso für seine Zwecke benutzte? Er hatte sie ernährt, er hatte sie zwanzig Jahre lang
auf das beste behandelt, mit ihr gesprochen, mit ihr gelacht, mit ihr geweint. Zugleich aber hatte er ihr die ganze Zeit verschwiegen,
wer er wirklich war. »Vater, noch eine Frage, bitte.«
»Was?«
»Du hast mich in den Arm genommen, als ich klein war, und hast mich Schätzchen genannt. War das vorgetäuscht?«
Er blieb stehen. Er hob die Hand und strich ihr mit den dünnen, kalten Fingern über die Wange. »Mathilde, Töchterchen. Ich
wünschte, du hättest einen besseren
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