Das Mysterium: Roman
kleinen Waisenknaben bereichert.
Seit Kindertagen trug er die Münze an einem Lederband um den Hals, ein Schmied hatte dafür ein Loch in das Silberstück gebohrt.
Sie bedeutete ihm alles. Ein schneller Blick zeigte ihm, daß der Hofmeister nur noch wenige Schritte entfernt war. Er entriß
dem Prinzen die Münze und ließ sie wieder unter dem Hemd verschwinden. »Kein Wort«, zischte er.
Der Prinz nickte. Er reckte sich hoch auf und sagte: »Das Spiel ist beendet. Der Gefangene hat sich freigekauft.« Die Kinder
murrten, aber sie ließen Nemo ziehen.
»Was, bitte schön, soll das?« fragte der Hofmeister.
»Eine Sache zwischen mir und Prinz Wilhelm.« Nemo setzte das auf, was er als sein höfisches Lächeln geübt hatte. »Und jetzt
entschuldigt mich. William Ockham wartet.«
Der Hofmeister schwieg und sah ihm kalt ins Gesicht. Erkannte er den Bäckergesellen wieder? Nemo baute auf die Verachtung,
mit der höhere Beamte Knechten und Handlangern begegneten, sie betrachteten sie für gewöhnlich als austauschbare Werkzeuge
ihrer Herren. Er nahm sich dennoch vor, dem Mann fortan auszuweichen. Er hatte ihm zu lange ins Gesicht gesehen.
Nemo ließ den Hofmeister stehen und öffnete die Tür, die ihm der kaiserliche Leibarzt gewiesen hatte. Ein Korridor führte
unter einer gewölbten Decke entlang. In Nischen standen Kerzen und gaben dem Gewölbe einen weichen, rötlichen Schein. Zur
Linken führte eine dunkle Treppe in die Höhe, ebenfalls von Kerzen in steinernen Nischen beleuchtet. Er ging hinauf und fand
eine Tür, zugleich aber führte die Treppe weiter in die Höhe. War dies das Zimmer William Ockhams? Stimmen drangen durch die
Tür nach draußen.
»Unfug, diesen Papst weiter zu umwerben!«
»Morgen brechen sie auf. Während wir reden, setzen die Notare gerade das Beglaubigungsschreiben auf, das sie als Unterhändler
des Kaisers ausweist. Es ist unabänderlich, sie reisen nach Avignon.«
|48| »Wen schickt er diesmal?« Die Stimme rollte mit einem englischen Akzent.
»Marquard von Randegg, Ulrich Hofmaier und Heinrich von Zipplingen.«
»Wie kann Ludwig immer noch hoffen, man würde den Bann gegen ihn aufheben?«
»Was soll er anderes tun, als zu hoffen?« Diese Stimme. Nemo verabscheute sie. Venk von Pienzenau sprach mit dem Gelehrten.
Er sollte besser umkehren. Er ballte die Hände zu Fäusten. Wenn er sich an Venk nur rächen könnte! Vielleicht erkannte Venk
ihn nicht? Er hatte damals einen Spitzbart getragen und lange Haare. Jetzt waren seine Haare kurzgelockt, der Bart war ab,
er blickte anders, bewegte sich anders.
Er klopfte, bereute es im gleichen Moment und trat dennoch ein. Es war ein geräumiges Zimmer, etwa von der Fläche, die sonst
eine fünfköpfige Familie bewohnte. Auf Truhen waren dicke, in Leder gebundene Bücher gestapelt. Der Tisch versank unter Pergamenten.
Zwischen ihnen erkannte Nemo einen Bimsstein, und auf dem Fenstersims stand ein Tintenfäßchen. Federn lagen daneben, gute
Gänsekiele. Es war lange her, daß er so etwas gesehen hatte. Es erinnerte ihn an seine Kindheit beim Meister des Spitalordens
vom Heiligen Geist.
Venk ging auf ihn los. »Du wagst es, Bursche, hier einzudringen?« Da, eine Handbewegung, und der Ratsherr hielt inne. So gehorchte
Venk von Pienzenau dem Engländer? Nemo betrachtete ihn. Seine Stirn zeigte braune Altersflecken. Der Mund war in der Mitte
dick, füllig, zum Rand hin aber waren die Lippen schmal. Ein Krötenmund. Die Augenbrauen waren die eines Greifs; sie waren
lang und stachen vom Gesicht ab. William Ockham sah ihn an mit einer Art amüsierter Neugier, wie ein Jäger, der ein seltenes
Tier entdeckt hat und es noch ein wenig betrachten will, bevor er es tötet und ihm die Haut abzieht. »Laßt ihn«, sagte er,
»ich brenne vor Wißbegier, zu erfahren, was er hier sucht.«
Venk nickte. »Sag deinen kleinen Vers, Bursche, und dann verschwinde wieder!«
|49| Nemo konnte den Blick nicht vom englischen Gelehrten lösen. Er bekam es mit der Angst zu tun. Diesen Mann zu belügen? Er fühlte
sich, als sei der Jüngste Tag hereingebrochen und er stünde vor Gott. Er hätte von vornherein den Kaiserhof meiden sollen!
Aber nein, er hatte eindringen müssen, um seine Antworten ausgerechnet von dem Mann einzuholen, der als der klügste im ganzen
Kaiserreich galt. Wie belog man einen wie ihn? Nemo verneigte sich. »Ich muß mit William Ockham sprechen. Aber wo ich hier
bin: Ihr seid Venk von Pienzenau,
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