Das Mysterium: Roman
habe. Als Nemo das Gasthaus betrat, gekleidet in das goldene Jaquette und die
rubinroten Beinlinge, um sein Pferd einzufordern, da fragte ihn die Wirtin: »Haben Euch nicht die Lehrlinge des Perfectus
abgeholt vorgestern? Seht Euch vor! Womöglich steht Ihr auf der Liste!«
»Auf welcher Liste?«
»Ihr steht darauf und wißt es gar nicht! Ob schuldig oder unschuldig, das spielt keine Rolle. Wessen Name einmal auf die Liste
geraten ist, den erwischen sie, früher oder später.«
»Seid Ihr noch bei Verstand? Das ist doch haarsträubender Unsinn.«
»Nein, glaubt mir! Ein Gast aus Nürnberg hat erzählt, in seiner Heimatstadt wurde jemand zwanzig Jahre nach seiner Vernehmung
von der Inquisition eingekerkert. Sie hatten seine Aussagen aufgehoben, und als ein Prozeß in Augsburg ihn als Lügner entlarvte,
ist man der Sache erneut nachgegangen. Die schreiben jedes Wort auf, das wir sprechen! Und wem kommt nie ein falsches Wort
über die Lippen? Man darf gar nicht erst auf ihre Liste geraten.«
Er brach das Gespräch ab, scheinbar erhaben über das Gerede der Wirtin. Wie ein Herr ritt er über den Rindermarkt, die Spitzen
der Schnabelschuhe weit aus den Steigbügeln gestreckt, und machte ein strenges Gesicht. Im Inneren aber fürchtete er sich.
Es gab zu viele Feinde, jede seiner Masken war verrutscht. Lief er als Tagelöhner Nemo durch die Straßen, so wußten ihn die
Handlanger des Inquisitors zu fassen. Sicher war er ihnen inzwischen genannt worden, und es fanden sich genügend Münchner,
die versuchen würden, das eigene Wams rein zu waschen, indem sie dem Inquisitor den |366| Leibdiener des Perfectus herbeischleppten. Zeigte er sich aber als französischer Adliger, so hatte er Amiel und seinen Getreuen
zu erklären, warum er ohne Abschied entflohen war. Abgesehen davon, daß ihn einige Städter zusammen mit den Kuttenträgern
gesehen hatten und wiederum vor den Inquisitor zerren konnten. Er mußte Amiel so rasch wie möglich finden und dann endgültig
von hier verschwinden.
Er bog in die Sendlinger Straße ein. Das Pferd rutschte aus, es riß den Kopf hoch und setzte die Hufe neu, um Halt zu finden
auf dem Eis. Erschrocken krampfte Nemo die Hände um die Zügel. Er hatte doch ein gutmütiges Pferd verlangt, um zu verbergen,
daß er nicht reiten konnte. Die Schimmelstute ließ den Kopf wieder sinken und ging weiter, als sei nichts geschehen.
Weit vor sich, nahe dem Stadttor, das sich am Ende der Straße abzeichnete, konnte er einen Wagen ausmachen und Menschen, hier
bei den vornehmen Ritterhäusern aber war die Straße still und leer. Offenbar wollte niemand in der Nähe des Perfectus gesehen
werden.
Er passierte das Haus der Familie Freymanner, ein hohes Gebäude auf Steinfundament, die Nußholzfensterläden mit Ornamenten
verziert. Davor stand ein Schneemann. Zwei Kohlen waren die Augen. Nase und Mund fehlten. Er blickte stumm vor sich hin, der
Schneemann, wie ein Überbleibsel aus glücklichen Tagen, und darum um so mehr sichtbares Unglück. Sein Kopf war grau, auch
der andere Schnee am Straßenrand war grau vom herabsinkenden Aschestaub.
Es roch nach Holzfeuer. Aus dem Schornstein des benachbarten Hauses Schrenk quoll dick der Rauch. Sie waren zu Hause, die
Patrizier, und mit Sicherheit sprachen sie an ihren Kaminen von nichts anderem als vom Untergang Amiels und davon, welche
Strafen der Dominikaner über Volk und Stadt verhängen würde.
Das Haus Mäusel überragte die anderen um ein halbes Stockwerk. Von der Traufe hingen lange Eiszapfen herab, gläserne Dolche,
die auf Passanten zielten. Er hatte früher als |367| Kind beim Heilig-Geist-Orden gern einen Eiszapfen abgebrochen und ihn gegessen. Das glatte Eis an den Lippen zu spüren, verschaffte
ihm damals Vergnügen, ebenso der kalte Trunk, wenn es im Mund schmolz, und der stumpfe Geschmack von Schneewasser.
Auch im Ritterhaus des alten Pötschner heizte man. Aus dem Schornstein qualmte es. Nemo stieg vom Pferd und band die Zügel
an den Querbalken, der vorn an der weißgetünchten Mauer des Hauses befestigt war. Weshalb kam ein Reittier eigentlich nicht
darauf, die Zügel durchzukauen? Es konnte so leicht entfliehen, wenn es nur etwas erfinderisch war.
Er setzte vorsichtig Fuß vor Fuß. Es war glatt, und die Schnabelschuhe hatten keine besonders gute Sohle. Kälte zog durch
sie hindurch, die Füße vermeldeten es klagend. Unter dem roten Wappen mit dem Pfeil klopfte er an das Tor.
Ein Knecht
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