Das Mysterium: Roman
heraus.
»Gib es mir.«
Er warf einen Blick auf den Dolch. Was, wenn er sich herumwarf und rannte?
Amiel schien seine Gedanken zu erraten. Er hob den Dolch wieder höher, zielte auf Nemos Hals. »Keine Dummheiten. Ein Ruck
meiner Hand, und du liegst röchelnd am Boden.«
|370| Widerstrebend reichte er Amiel das Pergament.
»Wenn du den Dominikaner um die zweite Hälfte des Dokuments erleichterst, sollst du deinen wahren Namen erfahren, und den
Ort, an dem deine Eltern sich befinden.«
Eine schamlose Lüge. Er würde ihm eine weitere Aufgabe geben, und danach eine weitere, immer mit dem Versprechen, ihm anschließend
das Geheimnis zu verraten. Dabei wußte er womöglich gar nicht, wohin die Eltern gegangen waren. Wenn er es wußte, hätte er
sie fragen können, wo der Hammer vergraben liegt. »Warum soll ich den Dominikaner bestehlen, wo er Euch das
Depositum
doch selbst geben will?«
»Er wird es mir nie geben. Selbst wenn der Kaiser stirbt, wovor Gott uns bewahre. Nach dem Tod des Kaisers würde er mich auf
dem Scheiterhaufen verbrennen, geknebelt, damit ich kein Wort sagen kann von seinem Mordauftrag.«
»Also soll ich es stehlen, und dann? Meint Ihr, der Inquisitor läßt Euch unbehelligt? Er wird Euch so oder so verbrennen.«
»Der Dominikaner muß glauben, daß ich seinen Wunsch zu erfüllen versuche. Es kommt ein Tag, an dem er mich nicht mehr besiegen
kann.« Amiel sah Nemo erschrocken an. Er verkniff das Gesicht, streckte den Dolch nach Nemos Hals aus. Der Dolch näherte sich
langsam, wie der Kopf einer Natter, die sich an ein Beutetier heranpirschte. »Warum bist du zurückgekehrt? Du hattest, was
du wolltest. Hat dich der Dominikaner gefaßt und du sollst mich aushorchen, im Gegenzug für ein gnädiges Urteil für dich?«
»Ich bin hier wegen Adeline. Wo ist sie?«
Der Perfectus schwieg.
»Gebt mir Adeline, und ich besorge Euch das Pergament. Ihr wißt, wo sie ist, nicht wahr?«
»Das ist Liebe«, sagte der Perfectus mit einem bitteren Unterton in der Stimme. »Sie ist hier wegen dir, und du bist ebenso
wegen ihr gekommen. Sie dachte, ich hätte dir etwas angetan, deshalb kam sie her und wollte mich vergiften. Aber ich bin nicht
das Scheusal, für das ihr mich haltet. Hilf mir, an |371| das Pergament zu gelangen, und ich lasse dich gehen, mit Adeline. Ihr sollt glücklich sein, solange das eben möglich ist,
unbeständig wie die Liebe ist. Lange wird es nicht halten.«
Er mußte erfahren, wo sie war. »Woher weiß ich, daß Ihr die Wahrheit sagt? Beweist mir, daß Adeline lebt. Ich will sie sehen.«
Der Perfectus dachte nach. Schließlich nickte er. »Vielleicht spornt es dich an, wenn du sie gesehen hast. Sie ist ein Sold,
für den sich ganzer Einsatz lohnt.« Er nickte zur Tür hin. »Geh voran.«
Nemo erhob sich. Er ging am runden Tisch vorüber, an den hölzernen Löwenpranken und an den Stühlen. Die Luft war dick hier
im Saal, Ofenluft, die das Atmen erschwerte. Er öffnete die Tür und trat in den kühlen Flur. Amiel wollte etwas von ihm, er
würde ihn nicht in eine Falle führen, sagte er sich. Wenn er ihn tot sehen wollte, hätte er ihn im Saal erstechen können.
Trotzdem blickte er über die Schulter und sah nach der Dolchklinge.
»Neben der Treppe steht eine Kerze in der Wandnische. Zünde sie an.«
Nemo nahm Zunderstein und Stahl. In der Nische lag Werg. Er hielt den Stein dagegen und schlug mit dem Stahl darauf, bis ein
Funke das Werg entzündet hatte. Dann hielt er den Kerzendocht in die Flamme. Die Kerze fing Feuer.
»Die Treppe hinunter. Nimm die Kerze mit.«
Die Kerzenflamme zuckte bei jedem Schritt, den er machte. Ihr Flackern brachte die steinernen Wände in Bewegung, die den Treppenabgang
säumten. Er hatte Adeline in den Keller eingesperrt! Es schnürte ihm das Herz zusammen.
Unten zog Amiel einen Schlüssel aus einem kleinen Säckchen, das er um den Hals trug. Er sah Nemo an. »Deine Fähigkeit, dich
zu verwandeln, ist erstaunlich. Wer sagt mir, daß du in Wirklichkeit Nemo, der Streuner bist? Immerhin wurdest du vom Meister
des Heilig-Geist-Ordens erzogen, das macht einen nicht notgedrungen zum Tagelöhner. Wie bist du der Vernichtung durch den
Dominikaner entgangen damals?«
|372| »Ich kenne die Stadt.« Wie sah Adeline aus? Wie ging es ihr? Hatte er sie geschlagen? Hatte er sie möglicherweise mit dem
Dolch verletzt wie ihn damals, daß ihr das Blut über das Gesicht lief?
»Du hast ihn einmal getäuscht. Es wird dir
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