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Das Mysterium: Roman

Das Mysterium: Roman

Titel: Das Mysterium: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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sie.
     »Es tut mir leid«, flüsterte er. »Bitte gib nicht auf.«
    Ihr Körper erbebte. Sie konnte nicht mehr weinen, aber sie zitterte. Nemo hielt sie fest. Es war ihr unangenehm, daß ihr Körper
     sich so schüttelte. »Ich muß weg. Ich muß weg hier«, stieß sie hervor.
    »Ich weiß.«
    »Bitte hilf mir.« Stotterte sie? Sie hatte nie gestottert.
    »Schhh. Es wird alles gut.« Er streichelte ihren Hinterkopf und ihren Nacken.
    Aber sie war häßlich! Sie war kaputt, zerbrochen! Warum war er zärtlich zu ihr? »Weißt du nicht, was passiert ist?«
    »Schhh.«
    Er wollte, daß sie schwieg. Also stand sie da, und auf einmal kamen doch Tränen. Sie weinte sein Hemd naß. Sie spürte seine
     warme Brust durch das Hemd. Seine Hände streichelten ihren Nacken. Er war gut zu ihr.
    Er sagte: »Der Psalm, den du im Heuschober aufgesagt hast, wie ging der?«
    »Ich weiß nicht.«
    »Es war etwas mit einem Hirten.«
    »Der Herr ist mein Hirte.«
    »Und weiter?«
    »Nichts schadet mir.«
    »Und dann?«
    »Er hat mich an einen Platz mit frischem Gras geführt und gibt mir köstliches Wasser. Er hat meine Seele mit Gutem beschert.
     Er leitet mich auf der Straße des Rechtes, um seines Namens willen.« Es tat ihr wohl, den Psalm zu sprechen. Er erinnerte
     an gute Tage. Sie spürte, wie sie ruhiger wurde. Das Zittern verebbte.
    |378| »Dieser Psalm hat Kraft. Ich will ihn lernen. Bringst du ihn mir bei?«
    »Ja.« Ohne sich aus der Umarmung zu lösen, sah sie auf, sie mußte seinen Blick sehen. Sie erschrak. Sein Gesicht war naß von
     Tränen, ebenso wie ihres.
     
    An diesem Abend wurde es nicht dunkel in München. Aus allen Fenstern leuchtete es. Die Handwerker zündeten rußende Talglichter
     an, die Kaufleute Wachskerzen. In den Küchen saßen die Frauen zusammen und redeten und redeten und fanden keine angemessenen
     Worte für das Unglück, das über die Stadt hereingebrochen war. Männer standen mit Fackeln auf den Plätzen beieinander. Sie
     wollten gegen das Übel ankämpfen, nur wo sollten sie beginnen?
    Schneeflocken senkten sich auf ihre Fackeln nieder. Die Männer zerstreuten sich, gingen nach Hause. Bald lag eine dicke Schneeschicht
     auf Feuerholzstapeln, Ochsenkarren, Brombeersträuchern. Regentonnen wurden zugeweht, Müllhaufen, an die Hauswand gelehnte
     Kiepen.
    Der Dominikaner zog sich mit seinen Männern in das Augustinerkloster zurück. Sie wohnten im Gästehaus neben dem schneebehäuften
     Klostergarten. Man brachte ihnen Brot und Bier aus der klostereigenen Brauerei. Der Prior besuchte seine Gäste nicht.
    Ein Färberlehrling stapfte die vom Fensterlicht beschienene Straße zum Kaiserhof hinauf. Unter seinen Stiefeln knirschte der
     frische Schnee. Die Unterarme und Hände des Färberlehrlings waren rot. Er hatte heute mehrere Wollhemden in Alaunbeize gekocht
     und sie dann mit Krappwurzelsud eingefärbt. Als er an das Tor des Kaiserhofs klopfte, erhoben sich in den Käfigen die Löwen
     und nahmen erwartungsvoll Witterung auf.
    In der Wachstube saß nahe bei der Tür ein schmächtiger Wächter, den sie oft hänselten, weil ihm kein richtiger Bart wuchs.
     Schon beim ersten Klopfen sprang er auf. Er ging hinaus zum Tor und öffnete es. Der Färberlehrling legte die roten |379| kleinen Finger aneinander. Der Wächter antwortete mit demselben Zeichen. Er empfing ein Lederbündel.
    Er schob das Tor mit der Schulter zu und trug das Bündel über den Hof zum Küchenhaus. Der Jagdmeister kam ihm entgegen. Sein
     Blick war wäßrig, und er schwankte beim Gehen. Als er den Wächter passierte, hob er die Hand zum Gruß und lallte etwas. Der
     Wächter öffnete die Tür zum Küchenhaus. »Der Wolfsbarsch«, sagte er.
    Die Köchin nahm ihm das Bündel aus der Hand. »Ich mache den Fisch«, sagte sie streng zu den Küchenjungen. »Küm mert ihr euch um den Mandelpudding und die Feigen.« Sie rollte das Bündel auf und beugte sich darüber. Der Fisch lag da, schwarzsilbrig,
     und glotzte sie an. Daneben befand sich eine kleine, gedrechselte, mit Rillen verzierte Dose.
    Es klopfte erneut an das Tor. Der Wächter schrak zusammen. Er eilte zum Tor, öffnete es. Ein hoher Herr stand dort, und hielt
     sein Pferd am Zügel. Kein Gefolge war zu sehen, er war allein. Die golddurchwirkte Schecke aus Seidenbrokat war fleckig und
     naß. Irgendwoher kam ihm der Mann bekannt vor, aber er konnte sich nicht entsinnen, wann er ihn schon einmal gesehen hatte.
    »Ich muß zu William Ockham«, sagte der Edle. Er reichte dem

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