Das Mysterium: Roman
Erbrochenem. Die Hände des Kaisers lagen auf einer seidenen
Decke. Sie bedeckte den Berg von Kissen, unter dem er begraben war. Wieder hob er die Rechte und winkte.
William trat an das Bett heran. Er ging sogar die zwei Stufen hinauf, die zur Bettkante führten. »Majestät, ich bin untröstlich.
Ich werde nicht aufhören, Gott um Hilfe anzuflehen, bis er Euch geheilt hat. Wie geht es Euch?«
Nemo sah hinüber zur Bank. Prinz Wilhelm blickte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Er hatte ihn erkannt. Wenn er jetzt
nur nicht redete! In dieser Lage als französischer Spion bezeichnet zu werden war lebensgefährlich.
»Wie geht es mir?« fragte der Kaiser Doktor Marsiglio.
Der Leibarzt sah William ernst an. »Die Atmung ist flach und unregelmäßig. Er erleidet starke Schmerzen. Das Gift senkt seine
Körperwärme, hinzu kommen Übelkeit und Erbrechen. Die Stadtärzte empfehlen Aderlaß. Aber er ist zu schwach dafür, ein Aderlaß
in diesem Zustand –«
»Keinesfalls!« sagte William. »Wichtig ist, daß er viel trinkt.«
Der Leibarzt sagte: »Es ist eine Vergiftung durch Blauen Eisenhut, ohne Zweifel.«
»Ihr meint, der Inquisitor steckt hinter dem Anschlag?« Die Stimme des Kaisers war schwach. »Die Köchin ist verschwunden,
wir können sie nicht befragen. Aber ich kann es mir nicht vorstellen, William, daß der Dominikaner mit dem |395| Anschlag zu tun hat. Ich vermute eher, daß es eine Intrige des Perfectus ist, mich zu vergiften und dann solche Gerüchte zu
streuen. So will er erreichen, daß ihm der Dominikaner vom Hals geschafft wird. Er weiß, daß der Inquisitor ihn in Kürze verbrennt.«
William sagte: »Aber es käme der Kirche gut zupaß, wenn Ihr stürbet. Ein Kaiser, der seit zwölf, bald dreizehn Jahren exkommuniziert
ist und unbeschadet weiterregiert, das muß ihr übel aufstoßen. Zudem Eure Kampfbriefe gegen den Papst!«
» Eure
Kampfbriefe, William.«
»Ja, Majestät.«
»Der Inquisitor soll in seiner Arbeit nicht behindert werden, hört Ihr? Wenn er den Perfectus zur Strecke bringt, wendet sich
der Haß der Münchner gegen die Kirche, nicht gegen mich. Es könnte mir sogar Sympathien zuspielen, schließlich liege auch
ich im Widerstreit mit dem Papst.« Er verstummte und verzog das Gesicht. Mit geschlossenen Augen lag er da, seine Kiefer knirschten,
und Furchen durchzogen seine Stirn.
Margarete stand auf. Sie beugte sich über das Bett und ergriff die Hand des Kaisers. »Ludwig«, flüsterte sie.
»Es geht.« Er öffnete die Augen und atmete flach. »Es geht.«
Sie drückte noch einmal seine Hand, dann setzte sie sich.
»William, wenn man auf dem Sterbebett liegt – nein, sagt nichts, ich weiß um meinen Zustand –, dann gehen die Gedanken ungewöhnliche
Wege. Ich frage mich: Was, wenn Amiel recht hat? Ist es nicht tugendhaft, perfekt sein zu wollen?«
Der Engländer nickte. »Ich verstehe Eure Frage. Aber bedenkt, wahre Tugenden liegen jeweils in der Mitte zwischen zwei gegensätzlichen
Neigungen. Tapferkeit ist das rechte Maß zwischen Furcht und Übermut. Liebe zu einer Frau ist das rechte Maß zwischen Gleichgültigkeit
und Anklammerung. Damit ein Mensch tugendhaft handelt, genügt es nicht, eine Neigung auszuleben. Er muß es am rechten Ort
und zur |396| rechten Zeit tun. Aufgabe der Tugend ist es, Gemütsregungen anzustacheln, wo es sich gehört, und sie zu zügeln, wo sie an
unpassender Stelle zu stark werden. Wir alle haben verkehrte Begierden. Auch ich, und auch Ihr, mit Verlaub, Majestät.« Er
räusperte sich. »Es ist unsere Aufgabe, sie von den rechtmäßigen Begierden zu trennen und sie zu bezwingen. Vielleicht war
der Perfectus ursprünglich auf einem guten Weg. Dann aber hat er sich geirrt. Es ist oft so, daß ein falscher Schluß viele
falsche Schlüsse nach sich zieht. Ein kleiner Irrtum wächst sich mitunter am Ende zu einer Katastrophe aus.«
»Ihr weicht mir aus. Was, wenn wir rein und perfekt sein müssen, um in den Himmel zu gelangen?«
»Das müssen wir.«
»Also hat der Perfectus recht?«
»Nein. Er meint, wir müßten uns selbst reinigen, müßten so lange gegen unsere Verbogenheit ankämpfen, bis wir gerade geworden
sind. In der Heiligen Schrift läßt uns Gott aber mitteilen, daß
er
dies tut. Wir bedürfen seiner Hilfe.«
»Natürlich, Gott tut es. Warum aber erst am Jüngsten Tag? Gott hat die Macht, uns jetzt schon von allen falschen Begierden
zu befreien! Der Perfectus lehrt, so hörte ich, daß Gott
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