Das Mysterium: Roman
uns zu Heiligen machen möchte, hier und jetzt, und daß nur solche
Heiligen gerettet werden. Hat nicht Gott wirklich die Macht, uns von aller Sünde zu befreien?«
»Gott kann, gemäß dem Sentenzenmeister, erstes Buch, Distinctio dreiundvierzig, vieles tun, was er jedoch nicht tun will.
Den Beweis liefert uns der Bericht des Johannes in Kapitel drei. Christus sagte: ›Wenn jemand nicht aus Wasser und aus Heiligem
Geist wiedergeboren wird, kann er nicht in das Reich Gottes kommen.‹ Gottes Macht ist zu diesem Zeitpunkt dieselbe wie früher,
bevor er Christus auf die Erde sandte, in früheren Zeiten aber wurden die Menschen von Gott angenommen auch ohne die Taufe.
Er hat sich entschieden, daß die Taufe wichtig sein soll, ein Symbol, ein Zeichen für den Bund mit ihm. Und so fordert er
sie ein.«
|397| »Meinetwegen, er tut nicht alles, was er tun könnte. Aber warum sollte Gott uns nicht rein haben wollen? Er kann uns von jedem
bösen Wollen befreien, kann uns ein Herz geben, das nur das Gute will. Warum sollte er das nicht tun?«
»Majestät, merkt Ihr nicht, wie tückisch dieses Argument ist? Schon Satan hat es angewandt bei der Versuchung des Herrn Jesus
Christus. Er führte ihn auf die höchste Zinne des Tempels in Jerusalem und wollte ihn verlocken, sich hinabzustürzen, denn
Gott könne ihn ja auffangen, so würde er sein Vertrauen in Gottes Kraft beweisen. Christus wies die Tücke von sich. Natürlich
hätte Gott Engel senden können, um ihn aufzufangen und sanft zu Boden zu tragen. Nur darf man Gott nicht versuchen. Das sagte
Jesus, Gottes Sohn. Wir Menschen, die als seine Geschöpfe weit unter ihm stehen, sollten schon gar nicht meinen, seinen Willen
besser zu kennen als er selbst. Er hat entschieden, uns erst bei seiner Wiederkunft von den bösen Gelüsten zu reinigen, zuvor
sollen wir, so gut wir es können, gegen sie ankämpfen und dadurch stärker werden. Die Fehltritte verzeiht er uns, das hat
er versprochen. Mit welchem Recht ändert der Perfectus Gottes Plan?«
Der Kaiser richtete sich auf im Bett. Sogleich eilte ein Diener herbei und stopfte ihm einige Kissen in den Rücken, so daß
er aufrecht sitzen konnte. »Das ist eine treffende Begründung«, sagte Kaiser Ludwig. »Es ist allerdings noch kein Beweis.
Beweist mir, daß der Perfectus unrecht hat!«
»Ich kann das nicht beweisen. Würde Gott sich in voller Pracht zeigen, dann wäre jeder Mensch auf dieser Welt gezwungen, Christ
zu werden, weil ihm die logischen Schlußfolgerungen keine andere Wahl ließen. Gott will diesen Zwang verhindern. Jeder, der
ihn von Angesicht zu Angesicht sehen würde, würde in einen solchen Zustand des Glücks geraten, daß er sich nie wieder gegen
ihn entscheiden würde. Er wäre nicht mehr frei. Gott aber möchte, daß wir uns frei für ihn entscheiden.«
»Aber wie sollen wir uns für ihn entscheiden, und vor allem, |398| wie sollen wir ihn kennenlernen, wenn er sich uns nicht zeigt? Woher sollen wir wissen, wie er wirklich ist?«
»Auch wenn Gott sich nicht in voller Deutlichkeit zeigt, können wir ihn doch erkennen. Wir besitzen in diesem Leben zwei verschieden
geartete Fähigkeiten, Dinge zu verstehen. Die eine ist die wissenschaftliche, abstraktive Fähigkeit der fünf Sinne und der
aus ihnen folgenden Schlüsse. Die andere ist die intuitive Fähigkeit, die uns erlaubt, Schönheit zu erkennen, Tugenden auszubilden,
zu lieben. Mit ihr gelingt es uns, Gottes Weisheiten zu verstehen. Mit Hilfe dieser Fähigkeit sind wir in der Lage, ihn zu
finden.«
Der Kaiser drehte den Kopf zu einem Diener hin. »Der Wärmstein ist kalt. Sorge dafür, daß ein neuer erhitzt wird.«
»Wie Ihr wünscht, Majestät.« Der Diener verließ eilig den Raum.
»Einigen Menschen hat er sich auch sinnlich erfahrbar gezeigt«, sagte der Kaiser und strich eine Falte auf der Seidendecke
glatt. »Es gibt Menschen, die ihn sehen durften. Manche sahen zudem seine Engel.«
»Ihr habt recht, er zeigt sich von Zeit zu Zeit wundersamerweise auch den Sinnen. Zwischen diesen Ereignissen aber können
wir Gott nicht wissenschaftlich beweisen. Wir können ihn mit unserer Seele erspüren und in der Schöpfung seine Handschrift
sehen, wie mit riesigen Buchstaben in Wald und Wiesen geschrieben, über Berge und Seen hinweg. Das ist alles.«
Prinz Wilhelm hielt seine Kinderhand vor den Bauch und winkte, kaum merklich, er ruckte nur die Fingerkuppen ein wenig. Dabei
sah er Nemo an, als wollte
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