Das Mysterium: Roman
erwogen sein. Ich weiß nicht, ob ich Eduard unter diesen Umständen
zu Willen sein kann.«
»Schon wieder Fisch«, sagte Wilhelm. Er ließ sich so weit zusammensinken, daß sein Kopf kaum noch über die Tischkante reichte.
Ludwig befahl: »Du ißt!« Der Speisenmeister schöpfte ihm Fischsuppe in die Schüssel. Ein großes, graues Stück Fleisch schwamm
darin. »Was ist das?« fragte er.
»Wolfsbarsch, Majestät.«
Ludwig sah über den Tisch zu seinem Sohn hinüber. »Weißt du, wie weit dieser Fisch gereist ist, um zu unserer Tafel zu gelangen?
Er lebt im großen Meer! Der Herr schenkt die Speise nicht umsonst. Wir sollen sie dankbar annehmen und uns stärken.«
Die Diener schöpften auch für die anderen Fischsuppe. Ludwig nickte Prior Konrad zu.
Konrad sprach das Tischgebet:
»Benedic, Domine, nos et dona tua, quae de largitate tua sumus sumpturi, et concede, ut illis salubriter nutriti tibi debitum
obsequium praestare valeamus, per Christum Dominum nostrum.«
»Amen«, sagte Ludwig und ergänzte: »Schau her, die Suppe schmeckt hervorragend!« Er tauchte den Löffel ein, brach damit ein
Stück vom Fisch ab, hob den Löffel vor den Mund und führte ihn ein. Er kaute. Der Fisch war furchtbar. Er war bitter. Ludwig
runzelte die Stirn.
Der Speisenmeister sah ihn erschrocken an. »Stimmt etwas nicht?« hauchte er. »Ist die Suppe versalzen? Oder ist sie zu heiß?«
Ein Brennen zog durch seinen Mund. Im ganzen Körper kribbelte es, als liefen ihm Ameisen über Haut und Organe. Ihm brach Schweiß
aus. Im selben Moment wurde ihm kalt. Er atmete, atmete, aber es genügte nicht, er mußte rascher atmen, er fühlte sich, als
würde er ersticken. Er stand auf.
»Ludwig!« rief Margarete bestürzt. Sie eilte um den Tisch herum, um ihn zu stützen.
|393| Im Vorzimmer zum kaiserlichen Schlafgemach flüsterten die Stadtärzte, die Gebrüder Tömlinger, aufgeregt miteinander. Abseits,
am anderen Ende der Bank, saß der Wundarzt Perchtold. Nemo wurde es flau im Magen. Wenn sie selbst Perchtold geholt hatten,
dann hieß das, daß sie aus Verzweiflung alles versuchten. Er galt in der Stadt als grobschlächtig und arbeitete hauptsächlich
als Bader. Es stand offenbar nicht gut um den Kaiser.
Die ganze Nacht hatte er gebetet, Gott möge den Kaiser nicht sterben lassen. William Ockham hatte keinen Vorwurf ausgesprochen,
schweigend hatte er neben ihm in der Kirche des heiligen Laurentius gekniet. Aber es war völlig klar, daß der Giftanschlag
hätte vermieden werden können, hätte Nemo nur rechtzeitig von Amiels Plan erzählt.
Außer William wußte niemand von Nemos Schuld, nicht die Kammermädchen, Knechte und Notare, die rings um ihn knieten, nicht
die Hofdamen und Ritter, die weiter vorn beim Altar beteten, nicht die Mönche, die ohne Unterlaß die Reichsinsignien bewachten.
Nemo erlaubte sich, ab und an ein kurzes Gebet für Adeline einzuflechten, wo auch immer sie war, wohin auch immer der verruchte
Amiel sie verschleppt hatte. Wieviel mußte sie noch erleiden?
Im Morgengrauen war er zur Mühle gelaufen und hatte seine alten Kleider geholt. Er hatte das gelbe Kreuz am Hemd befestigt.
Nicht einem Wort des Perfectus wollte er mehr Folge leisten.
Und nun suchten sie den Kaiser auf. Wie sollte er ihm ins Gesicht sehen, er, der Mordgehilfe? Diener öffneten die Türflügel,
und William trat ein. Nemo folgte ihm, hielt sich sorgfältig hinter dem Rücken des Gelehrten. Er hatte hier nichts zu suchen,
er gehörte nicht zu den Dienstleuten des Kaisers. Er sollte nur dabeisein, für den Fall, daß der Kaiser eine Frage zum Hergang
stellte, die William nicht beantworten konnte. Nemo hoffte inständig, daß sein Fehlverhalten in dieser Sache nicht zur Sprache
kommen würde.
Die Decke des Gemachs war mit Reliefs verziert. Wandteppiche |394| schmückten den Raum. In der Ecke stand ein hölzerner Hund, täuschend echt nachgeahmt in Gestalt und Fell. Die Kaiserin saß
auf der Bank neben dem kaiserlichen Bett, bleichgesichtig, übernächtigt, daneben Prinz Wilhelm und Prinzessin Elisabeth. Doktor
Marsiglio stand am Fenster. Er sah nicht glücklich aus.
Das Bett des Kaisers besaß ein überhohes Kopfteil aus dunklem Holz und vier schimmernde Messingsäulen, an denen grüne Stoffbahnen
als Baldachin herabhingen. Der Kaiser winkte William näher. Sein rotblondes Haar ließ das Gesicht fahl erscheinen, und die
Nase bog sich spitz in Richtung des Kinns herunter. Es roch nach
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