Das Mysterium: Roman
nicht wahr?«
Mißtrauisch musterte ihn Venk. »Ich kenne dich. Irgendwoher kenne ich dich.«
»Vielleicht sieht mir jemand ähnlich, den Ihr kennt.« Unter der Narbenhaut an Nemos Oberarm pulste es. Würde Venk seinen Dolch
ziehen und sich auf ihn stürzen, wie damals? Vielleicht wich er diesmal nicht schnell genug aus, und die Klinge landete in
seiner Brust, statt sich nur in den Arm zu bohren. Er sagte: »Ich hörte am Tor einen Knecht nach Euch fragen. Er sagte, er
gehöre zur Handelsgemeinschaft Wadler, er müsse Euch dringend sprechen. Den Rest habe ich nicht verstanden, er hat irgend
etwas von welschem Tuch und einem Brand im Gewandhaus gesagt.«
Venks Augen wurden groß. »Meine Gewölbe im Gewandhaus brennen?« flüsterte er. Ohne ein weiteres Wort verließ er das Zimmer.
»Da habt Ihr ihm keine frohe Botschaft gebracht«, sagte William. Glaubte er ihm? Der Gelehrte stand dort in einer Würde und
Ruhe, daß es Nemo um so mehr verunsicherte.
»Ich dachte, daß es für ihn wichtig sein könnte.«
»Besucher platzen bei mir nicht einfach herein. Welchen Grund habt Ihr für Eure Unhöflichkeit?«
»Mein Name ist Heinrich Pfanzelter. Bitte entschuldigt mein Benehmen. Ich wußte nicht, daß die Tür geradewegs in Eure Studienkammer
führt. Ich bin Student der Rhetorik. Ich bin hier, um Euch –«
»Wo studiert Ihr?«
|50| »In Bologna.«
»Und Rhetorik? Welche Freude!
Optime, Latine loquamini. Estisne Bononienses?
«
Verdammt. Wie hatte er sich so schlecht vorbereiten können, ausgerechnet auf die Begegnung mit William Ockham! Er konnte das
Vaterunser in Latein aufsagen und verstand einige Brocken, dank der Mühen des Ordensmeisters. Aber nie und nimmer würde er
den berühmten Gelehrten damit überzeugen, ein Student aus Bologna zu sein, schon gar nicht ein Student der Rhetorik. »Mein
Latein würde mich sehr beschämen. Es ist besser für Eure Ohren, wenn ich darauf verzichte, Latein zu sprechen.«
»So?«
»Was ich Euch fragen möchte, betrifft den schwierigen –«
»Ich sprach gerade mit dem Herrn von Pienzenau über die Franzosen«, unterbrach ihn William Ockham und machte einen Schritt
zum Schreibpult hin. »Wie würdet Ihr das Verhältnis der Deutschen zu den Franzosen einschätzen?«
Für gewöhnlich fiel es ihm leicht, Menschen zu durchschauen. Er wußte, was sie von ihm hören wollten. Für jeden konnte er
der gewünschte Gesprächspartner sein. Schon in seiner Kindheit hatte er immer gespürt, wer er sein mußte, um den anderen zu
gefallen, was er tun mußte, um nicht zu stören, um geliebt zu werden. Dabei ahnte er, daß sie nicht ihn liebten, sondern das,
was er darstellte; dennoch war es eine Form von Liebe, und er dürstete danach.
Der englische Gelehrte allerdings gab ihm Rätsel auf. Stellte er ihn auf die Probe mit seinen Fragen? War es seine Art, einen
Fremden kennenzulernen? Es war ein Gespräch, und doch schien es eine Prüfung zu sein. »Die Deutschen bewundern die Franzosen.
Wir fühlen uns geringer als sie. Sie haben die Universität von Paris, der keine andere gleichkommt. Deutsche schätzen sich
glücklich, wenn sie dort studieren dürfen.«
»Das sagt Ihr, als Student aus Bologna? Ich bin mir dessen sicher, wenn es in den deutschen Landen eine Universität gäbe,
würde sie sich als Konkurrentin der Sorbonne sehen.«
|51| »Wer soll es mit Paris aufnehmen? Das dominikanische Generalstudium?«
»Immerhin gegründet von Albertus Magnus.«
Um Gottes willen. Er spürte seinen Atem rascher gehen, jeden Augenblick würde sein Lügengebäude in sich zusammenstürzen. »Das
kann man doch nicht mit Paris vergleichen! Außerdem haben sie die französische Ritterschaft, trotz einiger Niederlagen die
vorbildlichste der Christenheit. Und niemand ist so reich und so mächtig wie der französische König. Dazu Avignon und der
Papst.« Er begann zu schwitzen.
»Avignon gehört nicht zu Frankreich. Genaugenommen untersteht es dem römisch-deutschen König. Das wißt Ihr nicht? Der Graf
von Provence ist dem Kaiser lehnspflichtig.«
Eindeutig eine Prüfung. Sein Gespür hatte ihn zu Recht gewarnt. Wie war es mit dem Grafen von Provence? Er durchforschte sein
Gedächtnis. Bevor er es vor drei Jahren gewagt hatte, sich als Adliger auszugeben, hatte er sich lange mit den Fragen der
Adligen befaßt. Etwas mußte hängengeblieben sein. »Ihr vergeßt, daß dieser Graf zugleich König von Sizilien-Neapel ist. Er
schert sich nicht um die
Weitere Kostenlose Bücher